Die Stadt, der Stoffwechsel und der Müll [Exzerpt] Chris Zintzen
1. Die Kreuzung
Der Praterstern ist ein Ort der mannigfaltigen Kreuzung und Überlagerung. Ursprünglich in klarer Sternstruktur an die Schwelle zu «Natur» (dem Prater) und «Ferne» (Nordbahn) gesetzt, setzt dieser «Platz» ein deutliches Signal urbanistischer Planungshoheit hart am Rande zum «Jenseits» der Metropole. Als Verkehrsknotenpunkt ist der Praterstern Eingangs- und Ausfallstor, Transitzone und Umschlagplatz für Menschen, Waren und Dienstleistungen aller Art. Mithin liesse sich dieser Platz als gigantischer «Stoffwechsel» beschreiben: Die Peristaltik von Zustrom, Sedimentierung und Abfluss lässt sich am Verkehr ebenso beobachten wie an den Besucher- und Warenströmen.
2. Treibgut im Fluss –
Widersetzliche Sedimentierungen Was dort hängen, liegen oder sonst zurückbleibt, ist der Abfall, kurz: Dasjenige, was jeder – bzw. jeder bestimmten - Funktion entbehrt. Vom menschlichen Treibgut, welches bereits die Autoren der Jahrhundertwende beschrieben bis zu den Sandlern dieser Tage - und den herumlungernden Kids. Selbst wo diese Klientel den Platz nicht als einen Ort nutzt, «an welchem man weiterkommt», spielt sie als Zielgruppe des niedergelassenen (Billa, Imbissbuden) oder ambulanten (Strassenmusiker, Zeitungsverkäufer) Warenangebots die gleiche Rolle wie die passageren Gäste. Als Konsumenten von Ware, als Produzenten von Abfall sind alle diese Personengruppen gleich. Wo verkauft wird, schlagen sich Spuren nieder, wo gegessen wird, bleiben Reste, wo man sich nur temporär aufhält, ist man – scheinbar – der Pflicht zur Reinheit enthoben. Abfall, schreibt der amerikanische Müllarchäologe William Rathje, wird erst zum Problem, wenn eine Gesellschaft sesshaft wird. - Menschen im öffentlichen Raum, Personen in der urbanen Transitzone ähneln jenen Nomadenvölkern, welche bei jedem Aufbruch und Weiterzug den Abfall buchstäblich hinter sich liessen.
Nun setzt sich jedoch die moderne Stadt aus vielen Ethnien zusammen, - aus verschiedenen Un-Gleichzeitigkeiten und Ungleich-Räumlichkeiten. – Des Weiteren ist aber auch das Leben des einzelnen Städters zusammengesetzt aus unterschiedlichen Verhaltensweisen, Handlungslogiken, Praxen. 16 Da sind die sesshaften Komponenten, wo es sich um die Ordnung / Unordnung im eigenen Wohnbereich, im Grätzl, in der «neighbourhood» handelt. Hier wird der Abfall nach dem NIMB-(«Not in my backyard»)-Prinzip abgewehrt. In anderen Situationen hingegen wird jeder – oder fast jeder – Grosstadtbewohner zum Nomaden: Die weitgehende Trennung der Bereiche «Wohnen» und «Arbeiten», «Versorgung» und «Spiel» machen Wege notwendig. Die verdrängte Konfrontation mit dem selbst produzierten Müll wird auf diesen Wegen, unterwegs, nicht in die blackbox der Colonia-Kübel versenkt, sondern – auf eine archaische, vielleicht regressive Art – on the road zurück-gelassen. […]
Mag sich die kommunale Verwaltung –als Super-System einer sesshaften Sozietät
– um die Bereinigung dieses Abraums kümmern. - - Müssig, daran zu erinnern,
dass sich die «Kommune» aus dem lateinischen «communis» | «gemeinsam»
herleitet: Dass also auch die Strasse, der öffentliche Raum etwas wie ein
«gemeinsames Haus» darstellt.
Da sich aber der moderne Mensch mittlerweile ganz gut mit der narzisstischen
Kränkung abgefunden hat, nicht «Herr im eigenen Hause» (Freud) zu sein, fällt
ihm die Verdrängung seiner Verantwortlichkeit für ein gemeinsames Haus nicht
besonders schwer. […]
Aus: Zintzen, Chris: "Die Stadt, der Stoffwechsel und der Müll: Spurenlese am Praterstern.“
IFKTagung Das Andere der Stadt oder: Wie viel Ordnung braucht der Praterstern? 6.-8. Juni 2002
Quelle / Überlieferung:
Die Stadt, der Stoffwechsel und der Müll [Exzerpt] Chris Zintzen