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Freitag, 3. Mai 2024

Erschienen: Die Opfer von Donaublau

 

 

 Denn das knapp 100-seitige Büchlein ist mitnichten ein Leichtgewicht, sondern könnte – so viel vorweg – zu einer Kompilation jener fehlenden österreichischen „Psychohistorie“ beitragen, die Friedrich Heer in „Der Kampf um die österreichische Identität“ 1981 als „dringend[es]“ Desiderat eingemahnt hat.

 

Werk und Schreibhaltung der Autorin Marianne Fritz geben mir seit dreißig Jahren zu denken. Die Beobachtung des Neuen Wiener Symposiums zu Marianne Fritz im Jahr 1994, sodann die Kooperation mit der Gruppe Fritzpunkt für Literatur als Radiokunst zehn Jahre später, nicht zuletzt einige schweifende Lektüren innerhalb der Textgelände der Autorin trugen nicht eben zur Beruhigung bei. 

Die Neu-Edition des Bandes Die Schwerkraft der Verhältnisse gibt Gelegenheit zur neuerlichen Beschau eines Textbegehrens, dessen Analyse mit Friedrich Heers 1981 formuliertem Ruf nach der Notwendigkeit einer österreichischen „Psychohistorie“ in Zusammenhang gebracht wird. Die Schwerkraft der Verhältnisse war 1976 erschienen, ich halte diesen historischen Index der Publikation für relevant.

Der Essay ist im Themenheft No Future der Zeitschrift Wespennest erschienen.

Text (als pdf):  Die Opfer von Donaublau. Marianne Fritz’ Die Schwerkraft der Verhältnisse in neuer Ausgabe. In: Wespennest 186/2024 (Mai 2024), 88–91.

 

Chris Zintzen: Die Opfer von Donaublau. Marianne Fritz’ Die Schwerkraft der Verhältnisse in neuer Ausgabe. In: Wespennest 186/2024 (Mai 2024), 88–91.


 





Freitag, 4. November 2022

Chris Zintzen: Christine Ulms 'Traumstation' oder: Nachrichten von der Rückseite des Mondes

 

Zur Ausstellung Christine Ulm: Traumstation (Installation)

21.10.–16.11.2022

Mag3, A-1020 Wien, Schiffamtsgasse 17.

 

    Im Liegen endet die Überlegenheit des Überlegt-Seins, 

    der Schlaf erweist sich als Sieger über die Willenskraft.

    Wo sind wir, wenn wir träumen?

    Jenseits von Mythos und Mystik 

    sind immerhin Spuren zu rekognoszieren: 

    Ein Kopfkissen und viele Bezüge, diskrete Schrift-Objekte, Stille.

 


Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022


1. Intro

Wir sind geschäftig herbeigeeilt, um an einer Ausstellungseröffnung teilzunehmen. Ein gesellschaftliches Ereignis an einem für die Öffentlichkeit bestimmten Ort. 

Wir stehen hier in unserer offiziellen, vielleicht sogar festlichen Kleidung, in Straßenschuhen, mit Hut und Kappe, Tasche und Rucksack, also gestiefelt und gespornt. Wir haben unsere öffentlichen Gesichter aufgesetzt und halten Small Talk: Grüße, unverbindliche Bemerkungen, ein Winken den Vertrauten, ein Händedruck – falls wir uns diese gesellschaftliche Geste nicht abgewöhnt haben sollten – den Bekannten. Professionelle Freundlichkeit und kluger Kunstsinn wird als Gesichtsausdruck für alle uns Fremden gewählt.

Da bemerken wir jäh: Das Szenario, in das uns die Künstlerin Christine Ulm eingeladen und hereingebeten hat, ist ein Arrangement des Persönlichen und Privaten. 

Häusliche Requisiten – ein Diwan, ein Leintuch, ein weiß bezogenes, durch Schriftzeichen manipuliertes Kopfkissen und eine Reihe von Kissenbezügen an den Wänden – wurden in diesem Schau-Raum arrangiert; ein längsseitig halbrund bearbeiteter Marmorblock gibt den kompositorischen Kontrapost der Installation im Raum; als vegetabile Zutat verweist ein Sträußchen Salbei auf den Volksaberglauben, Salvia inspiriere prognostische Träume. Platziert unweit des auf einem hohen, schmalen Podest ruhenden Marmorblocks (der an hölzerne ethnische Kopfstützen aus Japan oder Afrika erinnert), akzentuieren der Strauß und dessen Duft die lotrechte Achse/Dimension (Chthonisches – Erde – Himmel) der sonst weitgehend horizontal im Raum ausgerichteten Anordnung.

 

2. Mémoire involontaire

Nichts davon ist uns unbekannt, wir haben es so oder ein wenig anders auch bei unseren Eltern, Großeltern, Tanten oder Schwägerinnen gesehen. Wir können die schon etwas mürben Baumwollstoffe gleichsam spüren, noch ohne sie berührt zu haben. Vielleicht riechen wir noch den Dampfbügelgeruch in der Küche, wo die Großmutter neben dem Dauerbrandherd die Wäsche unter Verwendung von feucht aufgelegten Halbleinen-Küchentüchern plättete. 

An unsere sinnliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit appellieren auch jene dreidimensionalen Objekte, welche – für das Auge unsichtbar – in den horizontal an den Wänden der Galerie aufgereihten Kopfkissenbezügen platziert worden sind. Haptisch erkennen wir, was wir aus eigenen oder anderen Haushalten kennen. Kindliche Neugier und erwachsene Spurensuche fallen bei diesem wachen Ertasten in eins. Gemäß eines – beispielsweise von Ivan Illich und Herbert Marshall McLuhan tradierten – Topos der Kulturanthropologie sind haptische, sensorische, olfaktorische und akustische Wahrnehmungen dem Unbewussten näher als der visuelle Sinn. Das Auge gilt demnach als mit der bewussten Rationalität und Abstraktion assoziiert und eher den Mechanismen aktiver und passiver Kontrolle unterworfen als es die anderen Sinne sind. 

Christine Ulm gestattet uns, ihrem aus Alltagsdingen assemblierten Kunstwerk nahezutreten und buchstäblich auf Tuchfühlung mit dem Werk zu gehen.

Wir werden etwas erleben, was mit „Déja Vu” im oben genannten (=visuellen) Sinne nur unzureichend zu benennen ist. Alternativ oder treffender wäre mit Walter Benjamin von einer „mémoire involontaire” zu sprechen: Hier, im öffentlichen Raum und in einer öffentlichen Schau ereignet sich damit also etwas für uns – je individuell – ganz Persönliches.

 

3. Diwan der Transition

Und dieser Diwan: Ein historistisches Utensil, weniger für eine Übernachtung denn für den kurzen Erholungsschlaf am Tage gedacht. Wer sich hier hinlegt, bettet sich nicht kompliziert nach einer sorgfältigen Abendtoilette, sondern bleibt halbbekleidet – und sozusagen noch ein bisschen zivil.

Sich die Freiheit nehmen, einmal kurz abtauchen in den Eigen-Raum und in die Eigen-Zeit, bevor man wieder „gestellt” ist für die Pflichten der Sozietät, für den Ruf des Werks, für die Valenzen von Wert-, Werk- und Weltschöpfung. Dieser Diwan ist ein Requisit der Regeneration und wohl auch ein Vehikel der Inspiration. Nebenher stellt dieses wohlanständige Liegemöbel natürlich ein Accessoire der Verführung oder des Verführt-Werdens dar: zwei im Zusammenhang mit der intellektuellen bzw. künstlerischen Kreation eminente Valenzen!

Im Idealfall trägt uns ein solcher Diwan – einer kiellosen Zille gleich – an einen vom Jetzt und Hier verschiedenen Ort: Es denkt sich freier und flüssiger im Liegen, Fantasien und Erinnerungen sind die Wellen, auf denen wir leichter fortgetragen werden als dies je im reglementierten Sitzen, Gehen oder Stehen geschehen kann. Auf dieser Beobachtung beruht die Kunst und Praxis der Psychoanalyse. Im Liegen erschließen sich jene mentalen Ressourcen, welche unter dem Bann des Blickkontaktes im Vieraugengespräch sich (aus Scham und Scheu) verbieten: „Vom Denken im Liegen” titelte dementsprechend 2009 eine Ausstellung im Sigmund Freud-Museum über das psychoanalytische Requisit der Couch.

Vielleicht ist es ja so, dass uns das Liegen, das Schlafen, das Schlummern, das Träumen verwandelt und transformiert; vielleicht kehren wir aus dem mentalen Halbschatten des Dämmerns als eine andere, als ein anderer zurück; und vielleicht ist jeder Traumzustand eine kleine Acheron-Fahrt des Bewusstseins und eine unmerkliche Transition hin zu etwas, das wir nicht zufällig kraft des Tagesbewusstseins kaum je erfassen.

 

4. Immersion

Christine Ulms mit einfachsten Mitteln inszeniertes Ambiente einer Traumstation katapultiert die Betrachtenden unmittelbar in eine Raumstation des Persönlichen und Privaten. Es schließt sich daran unmittelbar die Frage an, ob diese persönlichen Traum- und Raumstationen gleich oder verschieden sind: Vielleicht kommen wir ins Erzählen; vielleicht werden wir entdecken, dass wir ähnlich träumen; vielleicht kommen da aber auch Erinnerungen und Bilder, die nicht mitteilbar sind.

Stellen wir uns doch – sozusagen differenzialdiagnostisch – dieses diskrete Theater der Objekte kurz in Form eines Multiples vor: Reproduziert in 20 übereinanderliegenden Zimmern eines Hochhauses, erhielte dieses Szenario eine Bunuel’sche Schlagseite und verwiese wohl weniger auf die eine oder andere Valenz eines (mythischen) kollektiven Unbewussten denn auf jene normierten, verwalteten und kommerziellen „Künstlichen Paradiese” (Charles Baudelaire), wie sie von Möbelhäusern, Urlaubsanbietern, Shopping-Mall-Designern, Unterhaltungsindustriellen und Virtual Reality-Programmierern vertrieben werden: „Immersionen”, „Erlebniswelten” und „Hier bin ich Mensch, hier kauf’ ich ein”.

Diese kommerzialisierten Traumräume und Kunstwelten sind im Hinblick auf Ausbeutung und Entfremdung ihrer KonsumentInnen optimiert, die (interessanter Weise als Asset beworbenen) „überwältigenden” Effekte sind jeder Selbstaufklärung aufseiten der Rezipierenden abhold. Angeboten wird dort jeweils eine Flucht in eine auf dem Reißbrett vorgeplante Sensation statt – und damit kehren wir zu Christine Ulms karg-minimalistischer Inszenierung zurück – eine Rückkehr zum Eigenen, zum Eigentlichen und damit gleichzeitig zum überindividuell Relevanten. 

 

5. Vorvergangene Gegenwart

Zu bemerken, dass das ganz Persönliche zugleich das Allgemeinste ist, ändert nichts am Wert und am Rang des Individuellen. Christine Ulm bietet ihre sorgfältig einer vorvergangenen Gegenwart entlehnten Objekte im Sinne eines poetischen Bühnenbildes an. Der Touch des ein bisschen Antiquierten, leicht Bestoßenen, hier Angegilbten und dort sogar Geflickten akzentuiert jenes Fluidum (Andreas Okopenko), jene Poesie des Aus-der-Zeit-Gefallenen, Abgeschotteten, wie ich es am eindringlichsten in Walter Benjamins Erinnerungen wiederfinde: Im Etui des bürgerlichen Interieurs konzentriert sich das Subjekt auf die Wahr-Nehmung und Ergründung eines mentalen Erlebens, das diesen besonderen Doppelcharakter von unmittelbarer Präsenz bei gleichzeitigem Ständig-Entgleiten bzw. Sich-Entziehen aufweist.

Es gilt dies insbesondere für die Erinnerung des Traumerlebens, dessen Geschmack, Melodie oder Tonus uns gleichsam noch erfüllt, während Handlung, Storyboard oder Plot sich als nicht habhaft oder fassbar erweisen. Jedes Mal, da wir es zu fassen wähnen, erkennen wir, dass wir lediglich den Schwanz in Fingern halten – die Eidechse aber ist fort. 

 

6. Motive: Etui und Umspringbild

Zwei Motive seien hier hervorgehoben. Das wäre, erstens, das Motiv des Etuis. Christine Ulm hat in sich in mehreren vorangegangenen Arbeiten direkt oder indirekt mit dem Motiv des Etuis befasst. Besonders eindrücklich ist jene skulpturale Arbeit aus Marmor, welche ein Etui für den hölzernen „Einkochlöffel” ihrer Mutter darstellt.

Wenn wir die bürgerliche Wohnung und die Idee von „Privatheit” als solcher mit Walter Benjamin als eine Art „Etui” für das empfindende und wahrnehmende Subjekt auffassen (dies im Gegensatz zum ephemeren, unbehausten und in der Unruhe des Exils befindlichen Subjekts des Passagenwerks), können wir diesem „Etui” auch in dieser Traumstation begegnen: Die an zwei Wänden angebrachten Kopfkissenbezüge wären dann sozusagen die Wände des Traumzelts(1), in dessen Schutz sich die Lager- und Ruhestatt des Diwans befindet. Noch die an den Wänden angebrachten Kissenbezüge dienen wiederum ihrerseits als Etuis für Gegenstände, die unseren Augen entzogen sind, aber für unsere Hände ertastbar und somit taktil identifizierbar sind.

Dieser Aspekt des offen Verborgenen oder verborgen Erfahrbaren leitet über zum zweiten großen Thema dieser Installation: der Rekonstruktion des Traums, die Traumerinnerung via Schrift.

Die Schriftlinien auf den Kissenbezügen, insbesondere aber das rückseitig mit Schriftzügen bedruckte Kissen auf dem Diwan resultieren aus den Erfahrungen der Künstlerin mit dem Versuch, Trauminhalte aufzuzeichnen und zu notieren. Die Gestaltung des Kissens bringt Christine Ulms Befund auf den Punkt: Was ich im Schlaf als dicht und unmittelbar erlebe, entzieht sich mir im Wachzustand – kann also nicht in linearen Satzperioden aufgezeichnet werden.

Vorder- oder Recto-Seite, die uns zugewandte „Wachzustand”-Seite des Kissens ist leer, die abgewandte, Rück-, Verso- oder Traumseite des Kissens ist dicht mit Schriftzügen bedeckt.

Bei Albrecht Dürer gibt es wilde abstrakte, impressionistische, visionäre oder meteorologische Kompositionen auf Rückseiten von figurativen und konventionellen Gemälden (z. B. ein grell explodierender Himmelskörper auf der Verso-Seite des Büßenden Hieronymus [1496], eine Wolkenstudie auf der Rückseite des Aquarells Weiher im Walde [um 1496]). Wir deuten dies gerne anachronistisch im Sinne eines vermuteten Gegensatzes zwischen dem rationalen Tagesbewusstsein und den illuminierten Visionen von Träumenden.

Ob dieser Gegensatz dem pragmatischen Erkenntnisinteresse dienlich sein kann, darf angezweifelt werden. Wir akzeptieren die Existenz der für uns nie sichtbaren Rückseite des Mondes genauso, wie wir akzeptieren, dass die Erde eine Kugel ist, obwohl wir nur einen Bruchteil dieser Kugel vor Augen haben. Aus den Tatsachen der offensichtlich verborgenen Mondrückseite, der mehr als 99,99% für uns nicht-sichtbaren Erdoberfläche und der neuronalen Hirn- bzw. unbewussten Prozesse des Traums ein Anderes, Bedeutsames, Mythisches zu konstruieren, mag unseren Hunger nach Mehr-Wert und Surplus an Bedeutung zwar temporär stillen, bleibt allerdings im Bereich der kaum überprüfbaren Fiktion. 

 

7. Mediale Grenzen

Vielleicht aber eignet sich das Erleben von Träumen bzw. die Erinnerung daran ganz grundsätzlich nicht für eine Übersetzung in die linear-sukzessive und von mannigfaltigen grammatikalischen Regeln organisierten Medien von Sprache und Schrift: Sie kann das geträumte „Boot” beim Namen nennen, sie kann den geträumten „Vogel” ins Wort setzen und diesen Vogel vielleicht sogar ein bisschen beschreiben: Die besondere Aufladung und Aura dieser Objekte wird allerdings schwer in die plane Mitteilbarkeit zu retten sein.

Dass es dennoch ein „Etui” für Träume geben kann, einen Ort, an dem die Träume geträumt, aufbewahrt und gleichzeitig erneuert werden dürfen, erweist Christine Ulms Environment einer Traumstation: Es handelt sich hier um ein stilles Theater der Objekte, das bespielt wird von der Präsenz der Abwesenheit. 

Die Ausstellung ist eröffnet: Nun sind Sie, werte Damen und Herren, aufgefordert, sich selbst, Ihre Erinnerungen, Ihre Träume, Ihre Fantasie und Ihre Person in diese Abwesenheiten einzusetzen!


(1)   Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik, Bd. 1 (1860).



Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022



























 



Donnerstag, 17. Februar 2022

"Shifting perspectives": Die Konstruktion der Alpen im fotografischen Werk der österr. Architekturfotografin Margherita Spiluttini. – Preprint

 

Margherita Spiluttini_Nach der Natur_Konstruktionen der Landschft_Cover_TMW Edition Fotohof 2002















Shifting perspectives: Alpine scenarios in the work complex 'Nach der Natur' ('Beyond Nature') by Austrian architectural photographer Margherita Spiluttini. In: Alptraum(a). Alps, Summits, and Borderlands in German-speaking Culture, hg. v. Richard McClelland & Andrea Capovilla. De Gruyter 2022 (=Interdisciplinary German Cultural Studies). 

Preprint: DOI: 10.13140/RG.2.2.13594.72645.





Donnerstag, 15. Juli 2021

Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening

 

Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening


Lotte Lyon, Ausstellung Hard opening
mag3, 1020 Wien. Eröffnung 09.07.2021

Wir Kultuwissenschafter und Textproduzenten beneiden die Bildhauer: Wir schaffen Wortketten und unendliche Satzschlangen auf dem platten Papier und füllen diese in die leicht stapelbaren Container der Buchkultur. Selten wird es uns mit unseren Hervorbringungen gelingen, in den begehbaren, in den haptischen und in den körperlichen Raum vorzudringen. 

Bildhauer dahingegen wohnen und leben und arbeiten in Raum, ja, sie arbeiten ganz wesentlich mit der Dimension des Raums. Im Raumgreifenden verwirklichen sie sich: Gestatten, ich bin so frei: ich nehme mir den Raum.

Raum und Gestaltung

Im Thema des Raums und dessen Gestaltung (bzw. in dem Thema von “Gestaltung im Raum”) berühren einander die Disziplinen von Bildhauerei und Architektur. Gleich daneben wohnen die perspektivischen Traditionen der Zeichnung und die Kompositionsprinzipien der Malerei.

Für all diese Modalitäten der Behandlung, Darstellung, Gestaltung und Modellierung des Raums gilt allerdings eine fundamentale Regel: Raum wird erst durch seine Begrenzung und Rahmung wahrnehmbar. Schauen Sie sich um: Dieser Galerie- und Projektraum, wird durch seine Wände begrenzt und durch seine Öffnungen strukturiert: Türen und Fenster geben diesem Raum seine besondere Gestalt; anhand der Proportionen von Boden, Wänden und Decke erleben wir und erfahren wir den Raum und dessen Kubatur.

Wir selbst befinden uns als Körper in diesem Raum: Unsere eigene Körperlichkeit und das Verhältnis dieser körperlichen Dimension zur Dimension dieses Raumes bestimmen wesentlich, wie wir den uns umgebenden Raum wahrnehmen. Körper und Raum sind also wechselseitig aufeinander bezogen und sind von Begrenzungen (Rahmungen) bestimmt.

Vertikale Perspektive

Heute haben wir das Glück, neue skulpturale Arbeiten der Künstlerin Lotte Lyon in diesem Raum wahrnehmen zu dürfen. Wir sehen ein Arrangement von scheinbar einfachen Holzobjekten und wir sehen einen Paravent, einen Raumteiler aus Lochplatten. 

Vorangegangene Arbeiten der Künstlerin waren als lineare oder als flächige Gestaltungen auf Wänden aufgebracht oder waren als kubische Objekte auf den Boden platziert. in dieser Ausstellung aber montiert Lotte Lyon ihre Objekte an der Wand und bespielt damit die Vertikale. Die Objekte selbst haben das massive Aggregat der Bodenhaftung abgestreift: Als durchbrochene, gerahmte Rechtecke bieten diese Objekte jetzt neue Perspektiven.

Auffallend ist die lakonische Nüchternheit der Objekte. Die formale und materielle Reduktion dieser modellhaften Gestaltungen lädt dazu ein, über einen graduellen Vermittlungsprozess zwischen den planlinearen Zeichnung einerseits, dieser reduktionistischen Form der Skulptur und andererseits den Kubatur-Realisationen der Architektur nachzudenken. Und darüber, was Skulptur ist, in welche kulturellen und ästhetischen Praxen das Skulpturale eingebunden ist und welche Erwartungen wir üblicherweise dem Medium der Skulptur entgegenbringen. 


Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening

Skulptur als Medium

Auf diskrete Weise lenkt Lotte Lyon unseren Blick auf das Medium der Skulptur, die wir uns orthodoxer Weise als Festkörper im Raum, als zentralachsiales Gebilde, als Kunstwerk mit Schwerkraft vorstellen. Hier aber sehen wir etwas anderes: Wir sehen luftige Gebilde mit Ein- und Durchblick, wir sehen vertikal angebrachte Schau-Kästen, die der Schwer-Kraft des Skulpturalen entraten. Zudem verwandeln diese Objekte aufgrund ihrer visuellen und konstruktiven Transparenz ein traditionell tonnenschweres Thema der Kunstwahrnehmung in ein anregendes Spiel und suggerieren:

It is not the meaning of a work of art that is its primary message. It is the form of the artwork that is its primary message. 
Die primäre Botschaft eines Kunstwerks besteht nicht in seiner (möglichen) Bedeutung, sondern in seiner Form.

Das Geschäft des Deutens und Be-Deutens wird sekundär, denn Form an sich bedeutet ja etwas: Sie bedeutet Form, die es zu betrachten, die es zu erkunden, die es womöglich auch zu berühren und zu ertasten gilt. Anders als es die Interpretationsmaschinerie suggeriert, schöpft die Kunst ihre Seinsberechtigung nicht daraus, etwas zu bedeuten, eine “meaning” zu haben, ein Narrativ zu erstellen. Kunst ist keine Dienstleistung für “Sinn” oder “tiefere Bedeutung”.

Kunst ist, was sie ist – wie eine Blume ist, was sie ist.

Lakonische Objekte

In dieser Ausstellung der Form als Objekt der Form inszeniert Lotte Lyon einen Dialog zwischen BetrachterIn und Objekt. Die Objekte sind keine Multiples, sondern individuell angefertigte Stücke mit je individuellen Maßen. In wechselnden Variationen spielen die Einzelobjekte mit dem Motiv der Rahmung, mit der Idee des Kastens, mit dem Sujet der Leerstelle (Mallarmés blanc) sowie mit Fügungen aus rechten Winkeln und Schrägen bzw. Diagonalen.

Listig konfrontiert uns Lotte Lyon mit Offenheiten und Geschlossenheiten: Was wir sehen, ist oft zunächst einmal sozusagen das Brett vor dem eigenen Kopf. Denn trivialerweise erinnern uns diese Objekte – zumal in Augenhöhe und in Reichweite angebracht – an bekannte Dinge aus unserem Alltag: Fenster, Schränke, Kästchen, usw. Und doch hat jedes einzelne Objekt eine kleine Verfremdung eingebaut, die uns darauf aufmerksam macht, dass uns diese offenbar so durchschaubaren Objekte paradoxerweise mit etwas konfrontieren, das wir noch nie gesehen haben.

Lotte Lyons lakonische Objekte lenken das Augenmerk darauf, in welch hohem Maße der Raum nur anhand seiner Umgrenzungen wahrnehmbar ist, wie sehr das Gestalten das Nicht-Gestalten miteinschließt und wie sehr nicht zuletzt das Sagen und das Zeigen auf dem Schweigen, auf der Lücke und auf der Leerstelle beruhen. 

Lyons Arbeiten schärfen unseren Sinn für die Verschränkung des “Sehens, was ist” mit dem “Sehen, was nicht ist”. 

Sehen wir also zu, Lotte Lyons Objekte anzusehen.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.



Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening










Sonntag, 6. Juni 2021

das hündchen - Mit einer Zeichnung von Friederike Mayröcker




Friederike Mayröcker ist am 4. Juni verstorben. Wenige Menschen vermochten es ihr gleich zu tun in dem, was man "Begegnung" nennt. Eine Begegnung aus Ferne und Nähe zugleich, dicht und da und am Punkt des Moments und im Augenblick des Worts, dann wieder von einem Hauch erfasst und wieder entfernt, so zart, dass man nicht zu greifen und zu fassen oder nachfzufragen wagte. 

Ihre Stimme im Ohr, ihre Verse, deren Intonation in der Mitte, in Schwebe zu bleiben pflegten oder wie fragend und tastend nach oben auslauteten, als gelte es, noch weiter auszuholen, weitere Valenzen zu öffnen und jedenfalls: keinen Punkt zu machen. 

Ohne Punkt


Denn Poesie hat keinen Punkt, kan keinen Punkt haben, da sie als Künstlichstes dem Natürlichen nahekommt. Eine Seins-, Wahrnehmungs- und Schaffensweise, die ständig keimt und wächst und die, wie bei Friederike Mayröcker, sogar entlang von theoretischen und philosophischen Konzepten rankt und wuchert. Progressive Universalpoesie als Lebensmittel.  

Schließlich: Glaubwürdigkeit. Und das ist etwas besonders Rares. 

Arachne im Netz


Die Gewiißheit, dass Friederike an einem ganz bestimmten Ort dieser Stadt, in der Zentagasse im 5. Bezirk, lebt und arbeitet und als nimmermüde Arachne an ihrem poetischen Weltnetz spinnt, hat mich über Jahrzehnte als Gewissheit um die Realität der Poesie begleitet. Man konnte diese Weltwerkstatt per Telefon oder sogar mit dem Fahrrad ebenso erreichen wie man sich von dieser Weltwerkstatt immer wieder und immer weiter erreichen lassen kann, indem man eines ihrer Bücher aufschlägt, ihre Tonaufnahmen hört oder Angelika Kaufmanns Verschriftungen betrachtet.

In welchem Maß die Literatur eine Heimat darstellt, so tief und so weit wie die Kindheitslandschaften, wird uns erst bewusst, wenn uns ihre Schöpfer leiblich verlassen. "In einer Landschaft wie dieser" (Lars Gustafsson) wollen wir bleiben und uns dort beherbergen lassen. 

Landschaft wie diese


Einem Verharren dort nachzusehnen, hieße allerdings, im Modus der Regression und in der Vergangenheit gefangen zu bleiben. Der Tod lieber Menschen beauftragt uns mit der unmittelbaren Gegenwart, fern der Sentimentalität. 

Wenn nicht jetzt der Zeitpunkt ist, die Poesie bewusst wachzuhalten und atmen zu lassen: Wann dann?

__________
Friederike Mayröcker: das hündchen (Zeichnung für Chris Zintzen 2009)

Zeichnung: Friederike Mayröcker, 2009 (für meinen Hund)

2009 zeichnete Friederike Mayröcker meinen Hund und es entspannen sich Unterhaltungen und eine kleine Korrespondenz zum Thema. Aus dem Material wurde 2012 ein Gedicht: "das hündchen".

Erstdruck: Schwerpunktheft “Friederike Mayröcker” der Literaturzeichrift MATRIX 28/2012, hg. von Theo Breuer, Pop-Verlag, Ludwigsburg.


das hündchen


// für Friederike Mayröcker //



es sei, so sie, ein erstaunen gewesen,
es sei, als hätten wir's gewusst,
es sei ein hin- und hergeworfner ball, ein bild gewesen:
     zwischen ihr und ihm
sei die idee des hündchens, mit dem sie über hügel stiebe,
sei schieres bild geblieben;
sei beiden leibhaft unvereinbar erschienen
     mit der täglichen fährtenlese des zu schreibenden.
und als er dann jäh fort gewesen,
und wir weder worte des nachrufs noch des trostes gekonnt,
und wir das figürchen genommen – blau geäderte weisse keramik (delft gedacht) – 
und es ein kauernd aufmerkendes hündchen gewesen
und dies ihr statt der worte als ein zeichen geschickt.
und so war das hündchen, wie sie dann schrieb, aus dem simplen ding
und wieder ein lächelndes thema geworden
und sie inbegriffen wie auch ihn erinnernd,
und sie uns (das echte haarichte tier und mich) grosszügig eingelassen
     in jenes motiv via stetig erneuerter briefe und skizzen.

wien, 13.03.2012












Mittwoch, 13. Januar 2021

Möwen und Schreiben und Zweifeln

 

Möwen, Donau 2021-01-11 © Chris Zintzen @ panAm productions 2021

Möwen, Donau 2021-01-11 © Chris Zintzen @ panAm productions 2021



"Möwen als Mittler zwischen Wasser und Land und Luft."

Dies wäre unsere hehre und sehr menschliche Interpretation. Und dies wäre die Suggestion, die die westliche Poesie nahelegen würde, denn es klingt gut und "schön" und spricht davon, wie unsere Fantasie das Sosein durch Überschüsse koloriert. 

Was bleibt indes, wenn wir die kulturell übernommene Theatermaschinerie stillstellen und uns ganz auf diesen Moment der realen Wahrnehmung konzentrieren, ganz ohne Intention und ohne Zuschaltung von ästhetischen und konzeptuellen Effekten?

Es bleiben die Möwen und es bleibt die Faszination durch die Grazie und Schönheit ihres Flugs. Dies zu sagen, erscheint banal, tautologisch und nachgerade unoriginell. Ein Verstoß gegen die Regeln der musischen Welt. 

Was aber gewinnt eine Kunst, die ungeprüft überkommene Konzepte wiederholt, die auf bekannte Effekte zurückgreift und die das Sosein à la manière de x oder y illustriert?


Sehen schließt das Fragen mit ein 

wie Sprechen das Überwinden des Zweifels. 






Aufnahme: 11.01.2021, Donau (Wien, Albern)


Montag, 17. August 2020

Walter Baier: Eine Wissenschaft vom gesellschaftlichen Menschen.

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Verdinglichung“, Mag3, Wien, 28.07.2020

Verdinglichung. Ausstellung Chris Zintzen, Gue Schmidt, Fritz Fro @ Mag3, Wien, Juli/August 2020


Danke für Ihre Einladung!
Ich bin kein Kulturwissenschaftler oder Kunsttheoretiker, und will auch nicht als solcher dilettieren, sondern ich bin Ökonom. Ich weiß nicht, ob Sie mich gerade deswegen zu dieser Ausstellungseröffnung eingeladen haben, aber ich habe die Einladung vor allem deswegen angenommen. Wir befinden uns möglicher Weise am Beginn einer weltweiten ökonomischen Krise und ich ergreife daher gern die Gelegenheit, über Fragen der Ökonomie, das heißt, die Ökonomisierung unseres Alltags und unserer Persönlichkeiten zu reden. Exakt dies aber ist die Frage der Verdinglichung.

Der Begriff der Verdinglichung stammt von dem ungarischen Philosophen Georg/György Lukács, der 2016 dadurch geehrt wurde, dass das Archiv seiner Werke und Manuskripte durch das semifaschistische Orbàn-Regime geschlossen wurde. Ähnliche postume Ehrung wurde übrigens 2018 auch Rosa Luxemburg zuteil, deren Gedenktafel von ihrem Geburtshaus in Zamosc durch die polnischen Behörden entfernt wurde.

Zu Georg Lukàcs
„Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt.“, so beginn er seine 1916 publizierte Theorie des Romans.

Der Verlust der unmittelbaren Lesbarkeit der Existenz, das heißt das Auseinanderfallen von Wesen und Leben für den modernen bürgerlichen Menschen, beklagt der unter dem Einfluss seines Lehrers Georg Simmel und der Lebensphilosophie stehende Lukács. Dies bildet den Ausgangspunkt seiner Romantheorie, vielleicht seines gesamten Schaffens.
Ich spreche heute vor allem über den in Geschichte und Klassenbewusstsein veröffentlichten Essay Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. Sieben Jahren waren seit der Veröffentlichung der Theorie des Romans vergangen; der Erste Weltkrieg hatte 15 Millionen Tote gefordert, den Zusammenbruch die alte europäische Staatenordnung bestand nicht mehr, und in Russland hatten zwei Revolutionen stattgefunden, die die Bolschewiki an die Macht brachten. Lukács war Mitglied der Kommunistischen Partei Ungarns und hatte auch der kurzzeitigen ungarischen Räteregierung angehört. Alles dies spiegelt sich in dem Buch wieder, dessen Hauptstück der Verdinglichungsessay bildet.

Der Inhalt des Texts besteht vor allem in seiner peniblen Rekonstruktion der Marx‘ Werttheorie, und hier des 4. Abschnitts des ersten Kapitels Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheiminis. Tatsächlich bildet dies auch den philosophischen und methodologischen Kern des Kapital.

"Wirtschaft"
Worin besteht seine umwälzende Bedeutung für die Sozial- und Kulturwissenschaften?
Suchen Sie die Begriffsdefinition für das Wort Wirtschaft in Wikipedia, finden Sie, dass Wirtschaft die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen darstelle, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen. Selbiges in jedem beliebigen Lehrbuch der Wirtschaftswissenschaften: Hier wird Wirtschaft zumeist als der Umgang mit knappen Gütern definiert.

Lassen Sie sich nicht von dem gewaltigen Apparat mathematischer und statistischer Methoden irritieren, die auf dieser Definition aufbauen. Ihr Kern besteht darin: Wirtschaft wird uns als die Beziehung des einzelnen Menschen zu den Dingen, die er für sein Leben benötigt, und zu den technischen Hilfsmitteln, die er zu ihrer Beschaffung/Produktion in Gang setzt, vorgestellt. Ökonomie ist die Wissenschaft von der rationellen Beschaffung der überlebenswichtigen Gebrauchswerte. Eine Technik, wenn Sie so wollen.

Marx: Arbeitsteilung, Tauschhandel
Marx bestätigt einerseits diesen Gedanken, erkennt in der Produktion von Gebrauchswerten eine Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens, fragt aber: Was geht in einer Gesellschaft vor, deren Arbeitsteilung durch Tauschhandel vermittelt ist? Hier produzieren Menschen nicht, um den eigenen Bedarf zu decken, oder um mit anderen zu teilen, sondern befriedigen ihre Bedürfnisse, indem sie für die Befriedigung der Bedürfnisse anderer produzieren und ihr Produkt gegen andere Ware oder Geld auf dem Markt tauschen.
Um austauschbar zu sein, müssen die unterschiedlichen Güter, mit ihren spezifischen Nützlichkeiten/Gebrauchswerten auch Träger eines Gemeinsamen sein. Als diese gemeinsame Substanz aller Güter erkennt Marx, dass sie Mengen gesellschaftlicher, der Form nach individuell geleisteter Arbeit enthalten, die sich durch den Tausch als Beitrag zur Gesellschaft erweisen.
Den Tauschenden erscheint das zwischen ihnen bestehende gesellschaftliche Band als über die Dinge, die sie tauschen, vermittelt, so Marx‘ These, die aus einer Wirtschaftswissenschaft, die sich mit Sachen beschäftigt, eine Wissenschaft macht, die die sozialen Verhältnisse untersucht, die die Menschen bei der Produktion ihrer Bedarfsgüter eingehen: Eine Wissenschaft vom gesellschaftlichen Menschen. Marx bezeichnet dieses In-den-Dingen-Erscheinen der menschlichen Beziehungen als Warenfetischismus und Lukács als Verdinglichung. Verdinglichen ist ein transitives Verb: Wer oder was wird verdinglicht?

Warenfetischismus und Verdinglichung/Entfremdung
Wie Marx im Kapital schreibt: „Das Geheimnisvolle der Warenproduktion besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen.“ (Marx: Kapital, Bd. 1, S. 86)

Die hohe Wertschätzung, der sich Lukács‘ Essay erfreut, verdankt sich der Sensibilität, mit der er über die Folgen, die diese Konstellation für die Subjekte hat, nachdenkt:
„So wie das kapitalistische System sich ökonomisch fortwährend auf höherer Stufenleiter produziert und reproduziert, so senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewusstsein der Menschen,“ schreibt er (Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, S.104).

So erweist sich aufgrund der „scheinbar restlosen. zutiefst in das Physische und Psychische hineinreichenden Rationalisierung der Welt der Warenfetischismus als ein spezifisches Problem unserer Epoche“ (Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein). Womit wir auch an die in der Theorie des Romans aufgeworfenen Problematik anknüpfen können.

Es liegt mir fern, die Bedeutung von Lukács-Verdinglichungsessay zu relativieren. Erwähnt muss aber werden, dass sich sein Alleinstellungsmerkmal innerhalb der zeitgenössischen marxistischen Literatur auch einem speziellen Umstand der Veröffentlichungsgeschichte des Werks von Karl Marx verdankt: Erst 1932, sechs Jahre nach Geschichte und Klassenbewusstsein erschienen in Moskau die auch als Pariser Manuskripte bekannten Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von 1844, veröffentlicht und herausgegeben vom Marx-Engels-Institut, dessen Leiter David Borissowitsch Rjasanow gemaßregelt und 1938 als Volksfeind zum Tode verurteilt wurde. 1939 bis 1941 erschienen schließlich die Grundrisse der Politischen Ökonomie.

Von beiden Werken ging ein mächtiger Impuls für die Erneuerung des Marxismus auf undogmatischer Grundlage aus. Vielfach nimmt der junge Marx in diesen so spät veröffentlichten Werken von Lukács entwickelte Thesen vorweg:
„An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten“. (Marx: Pariser Manuskripte,  S.80).

Wir finden auch darüber Hinausgehendes: Während bei Lukács die Verdinglichung im Sinnes eines für die bürgerliche Epoche charakteristischen Zustandes vorgestellt wird, beschreibt bereits der junge Marx in den Pariser Manuskripten, mit dem (dem Hegel’schen Vokabular entlehnten) Begriff der Entfremdung eine Dynamik, die sich aus Kauf und Verkauf der speziellen Ware „Arbeitskraft“ gegen Arbeitslohn ergibt, und deren Substrat der Mehrwert und dessen Akkumulation auf der Seite der Kapitalbesitzer bildet.
„Der Arbeiter wird eine umso wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware.“ (Marx: Pariser Manuskripte, S.52).
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Weltdokumentenerbe | Weltmarkt
Sie werden Sich jetzt vielleicht denken, das ist wohl Weltliteratur. Und tatsächlich wurde ja das Kommunistische Manifest und das Kapital 2013 von der UNESCO als Teil des Weltdokumentenerbes anerkannt. Was aber haben wir davon, zu wissen, dass die bürgerliche, also die herrschende Ökonomie die Bewegung von Sachen beschreibt, unter deren Herrschaft die Menschen stehen, während es bei Marx um die gesellschaftlichen Verhältnisse geht, die die Menschen eingehen, und die sie an einer Emanzipation hindern. – Als Antwort möchte ich eine Empfehlung aussprechen: Wann immer Sie in der Zeitung Begriffe lesen wie „Aktienkurs“, „Investitionen“, „Geldmenge“ „Staatsschulden“, „Quantitative Easing“ etc., seien Sie sich der Tatsache bewusst, dass diese Aggregate Ihr tägliches Leben beherrschen, und zwar in einem Ausmaß, über das Sie  sich nur selten Rechenschaft ablegen. Bedenken Sie darüber hinaus folgendes Zitat von Karl Marx:
„Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie selbst zu kontrollieren.“ (Marx: Das Kapital, Bd. 1., S.89)

Bedenken Sie, wenn Sie Wirtschaftsfachleuten zuhören, dass der heutige Kapitalismus ein weltumspannendes System geworden ist und zwar in einem Ausmaß, das weder für Marx noch für Lukács vorstellbar war.

Letztes Jahr wurden an den weltweiten Devisenbörsen pro Tag 6.590 Milliarden USD umgesetzt, hier schließen sich an die Zahl 6.590 neun Nullen an, und ich bin froh, dass diese Zahl pro Tag angegeben wird, da sie – mit 365 multipliziert – nur schwer zu artikulieren wäre.
Breaking News: Vergangenen Freitag vermehrte sich Jeff Bezos‘ Vermögen durch Bewegung an den Börsen um 12 Milliarden USD.
Denken Sie an die Gewalt und die Tragödien, die in dieser Bewegung von Sach- und Geldwerten inbegriffen sind: Umweltzerstörung, Land Grabbing, Vernichtung der Tropenwälder, Rüstungsproduktion und Rüstungsexporte, Drogenhandel, Versklavung von weltweit über 40 Millionen Menschen und vieles Andere.

Wo aber bleibt das Optimistische?
Es besteht darin, dass es soziale Beziehungen sind, die hinter der Bewegung der Sachen erscheinen. Beziehungen, die für Veränderung offen sind. Das heißt, es geht darum, diese Beziehungen aus ihrer Verdinglichung herauszulösen, umzuwandeln, also in humane, bewusst gesteuerte und demokratisch geregelte, menschliche Beziehungen zurück zu drehen.
Die heutigen weltweiten Krisen lassen das immer mehr zum unabweislichen Imperativ des Überlebens werden.
Wie das gehen kann? Dies wäre wohl das Thema für Ihre nächste Ausstellung!

Literatur
  • Georg Lukács: Theorie des Romans Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin 1963.
  • Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über die marxistische Dialektik, Malik Verlag, Berlin 1923.
  • Karl Marx: Das Kapital Bd.1. Marx-Engels-Werke (MEW) Dietz Verlag Berlin 1974
  • Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Pariser Manuskripte 1844. In: Texte zur Methode und Praxis, Rowohlt, 1966.


Walter Baier
Jg. 1954, Wirtschaftswissenschafter, bis 2006 Vorsitzender der KPÖ und Herausgeber der Volksstimme, Gründungsmitglied der Europäischen Linken, seit 2006 Koordinator des europäischen Forschungs- und Bildungsnetzwerks „transform! europe – network for alternative thinking and political dialogue“.