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Freitag, 4. November 2022

Chris Zintzen: Christine Ulms 'Traumstation' oder: Nachrichten von der Rückseite des Mondes

 

Zur Ausstellung Christine Ulm: Traumstation (Installation)

21.10.–16.11.2022

Mag3, A-1020 Wien, Schiffamtsgasse 17.

 

    Im Liegen endet die Überlegenheit des Überlegt-Seins, 

    der Schlaf erweist sich als Sieger über die Willenskraft.

    Wo sind wir, wenn wir träumen?

    Jenseits von Mythos und Mystik 

    sind immerhin Spuren zu rekognoszieren: 

    Ein Kopfkissen und viele Bezüge, diskrete Schrift-Objekte, Stille.

 


Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022


1. Intro

Wir sind geschäftig herbeigeeilt, um an einer Ausstellungseröffnung teilzunehmen. Ein gesellschaftliches Ereignis an einem für die Öffentlichkeit bestimmten Ort. 

Wir stehen hier in unserer offiziellen, vielleicht sogar festlichen Kleidung, in Straßenschuhen, mit Hut und Kappe, Tasche und Rucksack, also gestiefelt und gespornt. Wir haben unsere öffentlichen Gesichter aufgesetzt und halten Small Talk: Grüße, unverbindliche Bemerkungen, ein Winken den Vertrauten, ein Händedruck – falls wir uns diese gesellschaftliche Geste nicht abgewöhnt haben sollten – den Bekannten. Professionelle Freundlichkeit und kluger Kunstsinn wird als Gesichtsausdruck für alle uns Fremden gewählt.

Da bemerken wir jäh: Das Szenario, in das uns die Künstlerin Christine Ulm eingeladen und hereingebeten hat, ist ein Arrangement des Persönlichen und Privaten. 

Häusliche Requisiten – ein Diwan, ein Leintuch, ein weiß bezogenes, durch Schriftzeichen manipuliertes Kopfkissen und eine Reihe von Kissenbezügen an den Wänden – wurden in diesem Schau-Raum arrangiert; ein längsseitig halbrund bearbeiteter Marmorblock gibt den kompositorischen Kontrapost der Installation im Raum; als vegetabile Zutat verweist ein Sträußchen Salbei auf den Volksaberglauben, Salvia inspiriere prognostische Träume. Platziert unweit des auf einem hohen, schmalen Podest ruhenden Marmorblocks (der an hölzerne ethnische Kopfstützen aus Japan oder Afrika erinnert), akzentuieren der Strauß und dessen Duft die lotrechte Achse/Dimension (Chthonisches – Erde – Himmel) der sonst weitgehend horizontal im Raum ausgerichteten Anordnung.

 

2. Mémoire involontaire

Nichts davon ist uns unbekannt, wir haben es so oder ein wenig anders auch bei unseren Eltern, Großeltern, Tanten oder Schwägerinnen gesehen. Wir können die schon etwas mürben Baumwollstoffe gleichsam spüren, noch ohne sie berührt zu haben. Vielleicht riechen wir noch den Dampfbügelgeruch in der Küche, wo die Großmutter neben dem Dauerbrandherd die Wäsche unter Verwendung von feucht aufgelegten Halbleinen-Küchentüchern plättete. 

An unsere sinnliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit appellieren auch jene dreidimensionalen Objekte, welche – für das Auge unsichtbar – in den horizontal an den Wänden der Galerie aufgereihten Kopfkissenbezügen platziert worden sind. Haptisch erkennen wir, was wir aus eigenen oder anderen Haushalten kennen. Kindliche Neugier und erwachsene Spurensuche fallen bei diesem wachen Ertasten in eins. Gemäß eines – beispielsweise von Ivan Illich und Herbert Marshall McLuhan tradierten – Topos der Kulturanthropologie sind haptische, sensorische, olfaktorische und akustische Wahrnehmungen dem Unbewussten näher als der visuelle Sinn. Das Auge gilt demnach als mit der bewussten Rationalität und Abstraktion assoziiert und eher den Mechanismen aktiver und passiver Kontrolle unterworfen als es die anderen Sinne sind. 

Christine Ulm gestattet uns, ihrem aus Alltagsdingen assemblierten Kunstwerk nahezutreten und buchstäblich auf Tuchfühlung mit dem Werk zu gehen.

Wir werden etwas erleben, was mit „Déja Vu” im oben genannten (=visuellen) Sinne nur unzureichend zu benennen ist. Alternativ oder treffender wäre mit Walter Benjamin von einer „mémoire involontaire” zu sprechen: Hier, im öffentlichen Raum und in einer öffentlichen Schau ereignet sich damit also etwas für uns – je individuell – ganz Persönliches.

 

3. Diwan der Transition

Und dieser Diwan: Ein historistisches Utensil, weniger für eine Übernachtung denn für den kurzen Erholungsschlaf am Tage gedacht. Wer sich hier hinlegt, bettet sich nicht kompliziert nach einer sorgfältigen Abendtoilette, sondern bleibt halbbekleidet – und sozusagen noch ein bisschen zivil.

Sich die Freiheit nehmen, einmal kurz abtauchen in den Eigen-Raum und in die Eigen-Zeit, bevor man wieder „gestellt” ist für die Pflichten der Sozietät, für den Ruf des Werks, für die Valenzen von Wert-, Werk- und Weltschöpfung. Dieser Diwan ist ein Requisit der Regeneration und wohl auch ein Vehikel der Inspiration. Nebenher stellt dieses wohlanständige Liegemöbel natürlich ein Accessoire der Verführung oder des Verführt-Werdens dar: zwei im Zusammenhang mit der intellektuellen bzw. künstlerischen Kreation eminente Valenzen!

Im Idealfall trägt uns ein solcher Diwan – einer kiellosen Zille gleich – an einen vom Jetzt und Hier verschiedenen Ort: Es denkt sich freier und flüssiger im Liegen, Fantasien und Erinnerungen sind die Wellen, auf denen wir leichter fortgetragen werden als dies je im reglementierten Sitzen, Gehen oder Stehen geschehen kann. Auf dieser Beobachtung beruht die Kunst und Praxis der Psychoanalyse. Im Liegen erschließen sich jene mentalen Ressourcen, welche unter dem Bann des Blickkontaktes im Vieraugengespräch sich (aus Scham und Scheu) verbieten: „Vom Denken im Liegen” titelte dementsprechend 2009 eine Ausstellung im Sigmund Freud-Museum über das psychoanalytische Requisit der Couch.

Vielleicht ist es ja so, dass uns das Liegen, das Schlafen, das Schlummern, das Träumen verwandelt und transformiert; vielleicht kehren wir aus dem mentalen Halbschatten des Dämmerns als eine andere, als ein anderer zurück; und vielleicht ist jeder Traumzustand eine kleine Acheron-Fahrt des Bewusstseins und eine unmerkliche Transition hin zu etwas, das wir nicht zufällig kraft des Tagesbewusstseins kaum je erfassen.

 

4. Immersion

Christine Ulms mit einfachsten Mitteln inszeniertes Ambiente einer Traumstation katapultiert die Betrachtenden unmittelbar in eine Raumstation des Persönlichen und Privaten. Es schließt sich daran unmittelbar die Frage an, ob diese persönlichen Traum- und Raumstationen gleich oder verschieden sind: Vielleicht kommen wir ins Erzählen; vielleicht werden wir entdecken, dass wir ähnlich träumen; vielleicht kommen da aber auch Erinnerungen und Bilder, die nicht mitteilbar sind.

Stellen wir uns doch – sozusagen differenzialdiagnostisch – dieses diskrete Theater der Objekte kurz in Form eines Multiples vor: Reproduziert in 20 übereinanderliegenden Zimmern eines Hochhauses, erhielte dieses Szenario eine Bunuel’sche Schlagseite und verwiese wohl weniger auf die eine oder andere Valenz eines (mythischen) kollektiven Unbewussten denn auf jene normierten, verwalteten und kommerziellen „Künstlichen Paradiese” (Charles Baudelaire), wie sie von Möbelhäusern, Urlaubsanbietern, Shopping-Mall-Designern, Unterhaltungsindustriellen und Virtual Reality-Programmierern vertrieben werden: „Immersionen”, „Erlebniswelten” und „Hier bin ich Mensch, hier kauf’ ich ein”.

Diese kommerzialisierten Traumräume und Kunstwelten sind im Hinblick auf Ausbeutung und Entfremdung ihrer KonsumentInnen optimiert, die (interessanter Weise als Asset beworbenen) „überwältigenden” Effekte sind jeder Selbstaufklärung aufseiten der Rezipierenden abhold. Angeboten wird dort jeweils eine Flucht in eine auf dem Reißbrett vorgeplante Sensation statt – und damit kehren wir zu Christine Ulms karg-minimalistischer Inszenierung zurück – eine Rückkehr zum Eigenen, zum Eigentlichen und damit gleichzeitig zum überindividuell Relevanten. 

 

5. Vorvergangene Gegenwart

Zu bemerken, dass das ganz Persönliche zugleich das Allgemeinste ist, ändert nichts am Wert und am Rang des Individuellen. Christine Ulm bietet ihre sorgfältig einer vorvergangenen Gegenwart entlehnten Objekte im Sinne eines poetischen Bühnenbildes an. Der Touch des ein bisschen Antiquierten, leicht Bestoßenen, hier Angegilbten und dort sogar Geflickten akzentuiert jenes Fluidum (Andreas Okopenko), jene Poesie des Aus-der-Zeit-Gefallenen, Abgeschotteten, wie ich es am eindringlichsten in Walter Benjamins Erinnerungen wiederfinde: Im Etui des bürgerlichen Interieurs konzentriert sich das Subjekt auf die Wahr-Nehmung und Ergründung eines mentalen Erlebens, das diesen besonderen Doppelcharakter von unmittelbarer Präsenz bei gleichzeitigem Ständig-Entgleiten bzw. Sich-Entziehen aufweist.

Es gilt dies insbesondere für die Erinnerung des Traumerlebens, dessen Geschmack, Melodie oder Tonus uns gleichsam noch erfüllt, während Handlung, Storyboard oder Plot sich als nicht habhaft oder fassbar erweisen. Jedes Mal, da wir es zu fassen wähnen, erkennen wir, dass wir lediglich den Schwanz in Fingern halten – die Eidechse aber ist fort. 

 

6. Motive: Etui und Umspringbild

Zwei Motive seien hier hervorgehoben. Das wäre, erstens, das Motiv des Etuis. Christine Ulm hat in sich in mehreren vorangegangenen Arbeiten direkt oder indirekt mit dem Motiv des Etuis befasst. Besonders eindrücklich ist jene skulpturale Arbeit aus Marmor, welche ein Etui für den hölzernen „Einkochlöffel” ihrer Mutter darstellt.

Wenn wir die bürgerliche Wohnung und die Idee von „Privatheit” als solcher mit Walter Benjamin als eine Art „Etui” für das empfindende und wahrnehmende Subjekt auffassen (dies im Gegensatz zum ephemeren, unbehausten und in der Unruhe des Exils befindlichen Subjekts des Passagenwerks), können wir diesem „Etui” auch in dieser Traumstation begegnen: Die an zwei Wänden angebrachten Kopfkissenbezüge wären dann sozusagen die Wände des Traumzelts(1), in dessen Schutz sich die Lager- und Ruhestatt des Diwans befindet. Noch die an den Wänden angebrachten Kissenbezüge dienen wiederum ihrerseits als Etuis für Gegenstände, die unseren Augen entzogen sind, aber für unsere Hände ertastbar und somit taktil identifizierbar sind.

Dieser Aspekt des offen Verborgenen oder verborgen Erfahrbaren leitet über zum zweiten großen Thema dieser Installation: der Rekonstruktion des Traums, die Traumerinnerung via Schrift.

Die Schriftlinien auf den Kissenbezügen, insbesondere aber das rückseitig mit Schriftzügen bedruckte Kissen auf dem Diwan resultieren aus den Erfahrungen der Künstlerin mit dem Versuch, Trauminhalte aufzuzeichnen und zu notieren. Die Gestaltung des Kissens bringt Christine Ulms Befund auf den Punkt: Was ich im Schlaf als dicht und unmittelbar erlebe, entzieht sich mir im Wachzustand – kann also nicht in linearen Satzperioden aufgezeichnet werden.

Vorder- oder Recto-Seite, die uns zugewandte „Wachzustand”-Seite des Kissens ist leer, die abgewandte, Rück-, Verso- oder Traumseite des Kissens ist dicht mit Schriftzügen bedeckt.

Bei Albrecht Dürer gibt es wilde abstrakte, impressionistische, visionäre oder meteorologische Kompositionen auf Rückseiten von figurativen und konventionellen Gemälden (z. B. ein grell explodierender Himmelskörper auf der Verso-Seite des Büßenden Hieronymus [1496], eine Wolkenstudie auf der Rückseite des Aquarells Weiher im Walde [um 1496]). Wir deuten dies gerne anachronistisch im Sinne eines vermuteten Gegensatzes zwischen dem rationalen Tagesbewusstsein und den illuminierten Visionen von Träumenden.

Ob dieser Gegensatz dem pragmatischen Erkenntnisinteresse dienlich sein kann, darf angezweifelt werden. Wir akzeptieren die Existenz der für uns nie sichtbaren Rückseite des Mondes genauso, wie wir akzeptieren, dass die Erde eine Kugel ist, obwohl wir nur einen Bruchteil dieser Kugel vor Augen haben. Aus den Tatsachen der offensichtlich verborgenen Mondrückseite, der mehr als 99,99% für uns nicht-sichtbaren Erdoberfläche und der neuronalen Hirn- bzw. unbewussten Prozesse des Traums ein Anderes, Bedeutsames, Mythisches zu konstruieren, mag unseren Hunger nach Mehr-Wert und Surplus an Bedeutung zwar temporär stillen, bleibt allerdings im Bereich der kaum überprüfbaren Fiktion. 

 

7. Mediale Grenzen

Vielleicht aber eignet sich das Erleben von Träumen bzw. die Erinnerung daran ganz grundsätzlich nicht für eine Übersetzung in die linear-sukzessive und von mannigfaltigen grammatikalischen Regeln organisierten Medien von Sprache und Schrift: Sie kann das geträumte „Boot” beim Namen nennen, sie kann den geträumten „Vogel” ins Wort setzen und diesen Vogel vielleicht sogar ein bisschen beschreiben: Die besondere Aufladung und Aura dieser Objekte wird allerdings schwer in die plane Mitteilbarkeit zu retten sein.

Dass es dennoch ein „Etui” für Träume geben kann, einen Ort, an dem die Träume geträumt, aufbewahrt und gleichzeitig erneuert werden dürfen, erweist Christine Ulms Environment einer Traumstation: Es handelt sich hier um ein stilles Theater der Objekte, das bespielt wird von der Präsenz der Abwesenheit. 

Die Ausstellung ist eröffnet: Nun sind Sie, werte Damen und Herren, aufgefordert, sich selbst, Ihre Erinnerungen, Ihre Träume, Ihre Fantasie und Ihre Person in diese Abwesenheiten einzusetzen!


(1)   Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik, Bd. 1 (1860).



Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022

Christine Ulm: Traumstation- Foto: Chris Zintzen, panAm productions 2022