Montag, 22. August 2022

35 Jahre Kunstradio und 55 Jahre Österreich 1: Literatur als Radiokunst revisited // Barbara Köhler in "die horen"

 


35 Jahre Kunstradio und 55 Jahre Österreich 1. Aus diesem Anlass rückt das Kunstradio einige der Projekte und Produktionen des Kunstradios der letzten Jahrzehnte in den Mittelpunkt des Juliprogramms.

Literatur als Radiokunst revisited, Kunstradio-Sendung, 24.07.2022 



Liesl Ujvary entwickelte 1999 die Reihe „Literatur als Radiokunst“, die Ujvary 2001 an Chris Zintzen übergab. Dieser kuratierte und betreute das Projekt bis 2014.

Insgesamt umfasst „Literatur als Radiokunst“ 60 Autoren und Autorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es entstanden Radiostücke in Zusammenarbeit mit ORF Tonmeisterinnen und Tonmeistern im Hörspielstudio RP4 im Wiener Funkhaus in 5.1 Surround Sound. Die Grundidee war, nur die eigene Stimme als Ausgangsmaterial für ein Hörstück zu verwenden.

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Hier noch einmal das wohlbekannte Manifest (➾ Literatur als Radiokunst) und hier das Verzeichnis von Produktionen, Produktionsnotizen und AutorInnen auf unserer historischen Seite (➾ Literatur als Radiokunst @ zintzen.org/Internet Archive). 

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Die Arbeit mit Stimme und Sprache im legendären RP4 ist von großer Faszination und Magie: Oft war es nur eine kleine Leselampe, die den abgedunkelt-schalltoten Raum von der Fokuszone her – AutorIn, Manuskript und Mikrofon – erhellte. 

Diese Erhellung ist geblieben und manifestiert sich im Vertrauen auf das gültige künstlerische Wort und auf die Wahrheit der rauen, authentischen Stimme (le grain de la voix, Roland Barthes): Barbara Köhler (✝︎), diese wunderbare Künstlerin, Dichtende und Denkende, verfügte über diese "rauque voix". 

Die Magie der Studioarbeit hat sich in einer Fotografie aus dem RP4 erhalten, die eben in den "horen" erschienen ist. 


Barbara Köhler 2006 im "Literatur als Radiokunst"-Studio; Fotografie © Chris Zintzen


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Donnerstag, 14. Juli 2022

Gehen und Sehen





Ein Jahr lang Gehen und Sehen zwischen Rendezvous- und Parapluieberg


Echtes Seifenkraut, Feinstrahl-Berufskraut, Tüpfel-Hartheu, Ackerwinde, Wilde Malve, Adria-Riemenzunge, Aufrechtes Glaskraut, Bartnelke, Waldmeister, Große Klette, Rotbeerige Zaunrübe, Rüben-Kälberkropf, Rainfarn-Phaezilie, Gewöhnliches Hirtentäschel, Großer Bocksbart, Wiesenkerbel, Wiesen-Bocksbart, Venusnabel, Gartennelke, Gewöhnliche Schuppenwurz, Kirsch-Pflaume, Gewöhnliche Blasenkirsche, Gefiederte Pimpernuss, Gewöhnliche Kugelblume, Kanadische Goldrute, Zimt-Erdbeere, Gewöhnlicher Diptam, Zypressen-Wolfsmilch, Blut-Storchschnabel, Purpurblaue Ringszunge, Prächtige Königskerze, Weiße Schwalbenwurz, Bunte Schwertlilie, Vogelwicke, Gelbe Resede, Acker-Wachtelweizen, Pfeil-Kresse, Inkarnat-Klee, Acker-Glockenblume, Weidenblatt-Rindsauge. 


Welt der Phänomene und ihrer Sprachen – Bewegung von Erkenntnis auf Schritt und Tritt: Wesen der Welthaltigkeit von Literatur. 






***Illustration: Tragopogon pratensis, aus: Carl Axel Magnus Lindman: Bilder ur Nordens Flora. Stockholm 1901–1905, splt. 1917–1926. 





Mittwoch, 11. Mai 2022

Pieris brassicae

 







Großer Kohlweißling (Pieris brassicae), eine Ameise saust auf Hochzeitsflug eilig vorbei. 







Aufnahme: 09.05.2022

















Dienstag, 10. Mai 2022

Zu finden

 

© Chris Zintzen @ panAm productions 2022

© Chris Zintzen @ panAm productions 2022

© Chris Zintzen @ panAm productions 2022




Dem Reiher beim Jagen fotografisch nachstellen, bedeutet bisweilen, sich der Ausdauer des Tieres mimetisch anzuverwandeln. In guten Momenten bedeutet dies: unerschöpfliche Geduld. Doch Vorsicht: Diese Geduld wandelt sich unversehens in Stur- und Starrheit – lass ab, atme aus, wähle einen anderen Blickwinkel. 

In Begleitung des Hundes wirst du ohnehin nicht den raren Moment erfassen können, in welchem die halbstundenlange Phase des Starrens und Lauerns in das jähe Vorschnellen und Zupacken des Beutegreifens umschlägt. Sei's drum! – Indes ist der Vogel erstaunlich tolerant, was die Anwesenheit des Hundes anbelangt: Das Herumplantschen des Vierbeiners im Unkenpfuhl scheint den Reiher kaum zu irritieren. Die sich putzende Ente dahingegen sehr – sie bringt den Jäger wiederholt aus dem Konzept oder stört ihn wiederholt in seinem konzentrierten Lauern. Irritiert wird zur Ente geblickt, ungnädige Miene. 

Was ist ein Ereignis? – Und was gehört erzählt?

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Glück besteht womöglich darin, zu wissen, wo es zu suchen sei – und zu finden. 
Es muss nicht angespart oder aufgehäuft werden, sondern ist – als Potenzial – immer da. 

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Aufnahmen: 09.05.2022










Montag, 9. Mai 2022

da – dort – fort

 

Parus major © Chris zintzen @ panAm productions 2022

Parus major © Chris zintzen @ panAm productions 2022

Parus major © Chris zintzen @ panAm productions 2022





Iris der Kohlmeise (Parus major).













Aufnahme: 12.03.2022, Donauauen.




Dienstag, 3. Mai 2022

Argynnis aglaja

 


Argynnis aglaja © Chris Zintzen @ panAm productions 2022

Argynnis aglaja © Chris Zintzen @ panAm productions 2022



Argynnis aglaja (Speyeria aglaja) oder Großer Perlmuttfalter. Zu erkennen, dass es sich nicht, wie zuvor angenommen, um einen Kaisermantel handelt, macht uns nicht dümmer, aber auch nicht eben klüger. Das Mantra von "Stamm-Klasse-Ordnung-Familie-Gattung-Art", vulgo die Systematik der Biologie bleibt immer sekundär zur Wahrnehmung, kann diese aber vertiefen. 
und: Lenkt den Blick darauf, dass der ersten Einschätzung etwas entgangen ist.

Denn die – tarntechnisch grandiosen – weißen Plaques an der Außenseite der Flügel waren auf den ersten Blick nicht aufgefallen: Erst deren Erkenntnis führt zu neuen Frage- und Suchbewegungen: Individuum oder Species? Zufall oder System?

Mit dem neuen Wort und mit der Einsicht, etwas erstmals als ein eigens Bezeichnetes gefunden zu haben, stehe ich morgen früh nicht leichter auf. – Aber ich gehe um ein kleines Bisschen glücklicher zu Bett: Die Welt ist weiter geworden: Um eine ganze Schmetterlingsflügelspanne weit. 

Zudem kann ich auf dem (unteren) Bild erstmals im Leben einen Schmetterlingssaugrüssel studieren –








03.05.2022


Montag, 2. Mai 2022

the crane, again, and still






Crane hunting / Vienna Wildlife, © Chris Zintzen @ pan Am productions 2022

 

Sag nicht "Unke", wenn du "Reiher" meinst. – Auf dem Wege der verdeckten Ermittlung kommst du immer ans Ziel, da auch das Ziel in der Suchbewegung und im Ereignis des Findens liegt. Es gibt kein anderes Ziel als das, beim Vorgang des Suchens zu lernen. – 

Wozu aber Lernen, wenn nicht für ein weiteres, dahinter liegendes Ziel? Für einen Horizont, der sich hinter dem aktuellen Horizont offenbart? – Das Versprechen der in die Unendlichkeit des atmosphärischen Dunstes gestaffelten Horizonte, wie sie das (christliche) Darstellungsformat der "Arkadischen Landschaft" suggeriert, ist zu prüfen. Die Gewissheit von der Beseeltheit der Welt wird auch von der Romantik eines Novalis als im Fortschreiten zu er-findendes "Neuland" in den Horizont projiziert: Dieser Horizont ist – wie in der Renaissance – diffus und fließend, als könne nur diese besondere Offenheit den Überschwang des beseelten Zustandes fassen. 

Die Konkretion des Hier und Jetzt, die vermeintliche Banalität des Gegenständlichen, das auf den ersten Blick als "bekannt" und "oft gesehen" anmuten mag, will uns zunächst der Illusion des "Surplus" berauben, da wir nur wiedererkennen, statt zu sehen. Die zeichnerische Arbeit "nach der Natur" bedeutet, den zu erfassenden Gegenstand zu studieren und sich ein Stück weit in diesen Gegenstand zu verwandeln, um ihn sozusagen von innen heraus, in seiner physikalisch bedingten Materialität, zu begreifen und zu gestalten. 

Ich erinnere mich an das Scheitern am zeichnerischen Studium einer Zwiebel, die auf besondere Art kein materieller Festkörper (etwa in Form einer Kugel), sondern eine zu körperlicher Festigkeit verdichtete Schichtung von hauchdünnen Membranen ist. Wie Peer Gynt arbeite ich mich an den formgewordenen Häuten ab und verliere dabei das Wesen der Zwiebel, das ich erfassen wollte. 

Vielleicht verhält es sich mit den hintereinander gestaffelten Horizonten ähnlich wie mit den übereinander liegenden Häuten der Zwiebel: Wir gehen von einem zum nächsten und hoffen, hinter der nächsten Horizontlinie oder unter der nächsten Haut befinde sich das "Wesentliche". 
Nie sind wir da, wo wir gerade sind, alles ist vorläufig. – 

Vielleicht bedarf es der Abkehr von dieser Perspektive, die nichts anderes als eine säkulare Variante des christlichen Heilsversprechens ist, um an jenen Punkt zu kommen, von welchem Pema Chödron in großer Radikalität spricht: an einen Punkt jenseits von Furcht und Hoffnung.
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Seit sechs Jahren steigen wir den Reihern nach. Sie finden sich nie, wenn wir absichtlich auf sie aus sind. So haben wir viele neue Bekanntschaften gemacht: Vorige Woche waren es die Elstern, die Schwanzmeisen und die Bachstelzen. Zuvor die Stare und die Falken. Die Wildgänse wurden dies Jahr verpasst, dafür haben wir die Zonen der Nachtigallen entdeckt und – heute – sogar erstmals einen dieser unscheinbaren Vögel im dichten Gestrüpp beobachten können. 

Die alte Dame, Spaziergängerin am Arm ihrer Tochter, übt sich im Pfeifen, gibt aber klein bei, als ihr die verborgene Nachtigall mit einem imitierten Kuckucksruf antwortet (Cuculiformes).

Auf dem Weg zu den Gelbbauchunken kommt mir der Reiher in die Quere: Offenbar haben wir das gleiche Ziel. Da sich Menschenlärm nähert, sind wir sämtlich fort: die Unken wieder unter den Seerosenblättern, der Reiher ins nächste Jagdquartier und auch ich – vielleicht ist auf der Wiese im Norden doch wieder ein Segelfalter anzutreffen?


Wien, den 2. Mai 2022. Das Notieren zu unterlassen, ist keine Lösung. 












Dienstag, 1. März 2022

Laurum militibus?

 


LAURUM MILITIBUS?  Äußeres Burgtor in ukrainischen Farben _ Wien, 01.03.2022 © Chris Zintzen






















All I have is a voice

To undo the folded lie,

The romantic lie in the brain

Of the sensual man-in-the-street

And the lie of Authority

Whose buildings grope the sky:

There is no such thing as the State

And no one exists alone;

Hunger allows no choice

To the citizen or the police;

We must love one another or die.


W. H. Auden: September 1, 1939
















Donnerstag, 17. Februar 2022

"Shifting perspectives": Die Konstruktion der Alpen im fotografischen Werk der österr. Architekturfotografin Margherita Spiluttini. – Preprint

 

Margherita Spiluttini_Nach der Natur_Konstruktionen der Landschft_Cover_TMW Edition Fotohof 2002















Shifting perspectives: Alpine scenarios in the work complex 'Nach der Natur' ('Beyond Nature') by Austrian architectural photographer Margherita Spiluttini. In: Alptraum(a). Alps, Summits, and Borderlands in German-speaking Culture, hg. v. Richard McClelland & Andrea Capovilla. De Gruyter 2022 (=Interdisciplinary German Cultural Studies). 

Preprint: DOI: 10.13140/RG.2.2.13594.72645.





Donnerstag, 25. November 2021

Katalog-Präsentation als Lockdown: Ab 2. Dezember 2021 im Projektraum mag3 (Wien)

 

Katalog-Präsentation als Lockdown: Ab 2. Dezember 2021 im Projektraum mag3 (Wien)




Sehr geehrte Damen und Herren, FreundInnen und GenossInnen,
Anverwandte, gute Bekannte, weniger gute Bekannte und Unbekannte (Fremde)!


Die postalisch für 2. Dezember avisierte Veranstaltung 

FRITZ FRO
GERÄUSCH – KLANG – MUSIK – RAUM
Katalogpräsentation (Schmidt/Zintzen) und Konzert/Projektion (Fro)

wird unter Umständen politisch-pandemiebedingter Kontaktvermeidung anders als ursprünglich geplant stattfinden. Geboten wird eine geschlossene Veranstaltung, die – hygienisch und virologisch einwandfrei – ohne Darsteller und Publikum stattfinden wird. 

Der Projektraum wird zum Flimmerkasten. Text, Bild und Film werden durch die Schau-Fenster in die Außenwelt projiziert: Die Gefahr einer persönlichen Kontaktaufnahme wird solcherart nicht nur aus-geschlossen, sondern Kunst und Diskurs werden als autonom präsentiert. 

Auf diese Weise lassen sich Werk, Katalog und Vermittlung als Laboratorium von möglichen Zuschauerinnen, PassantInnen, FlaneurInnen betrachten: 

Eventuell führt Sie einer Ihrer Wege zur „Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens“*, zur „Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib, Leben und Eigentum“*, zur „Erfüllung familiärer Pflichten“*, zur Kontaktaufnahme mit „einzelnen wichtigen Bezugspersonen“*, zur Befriedigung „religiöser Grundbedürfnisse“* sowie zur „körperlichen und psychischen Erholung“* durch den zweiten Bezirk!

Konzert, Videostream und Bezugsquelle des Katalogs werden darüber hinaus zeitnah online kommuniziert. Kunst, Diskurs und Reflexion streifen die Abhängigkeiten ab, das Publikum darf sich ungebunden fühlen – ein Raum flimmert allein in der Winternacht. 

Mit freundlichen Grüßen

Fro/Schmidt/Zintzen


Zeitraum: 2. Dezember – 4. Dezember 2021, 18:30-20:00 Uhr
Ortraum: projektraum MAG3, Schiffamtsgasse 17, 1020 Wien

Online:  https://www.nammkhah.at/Mag3/FFro35D.html


 

(*Quelle: https://coronavirus.wien.gv.at/neue-corona-regeln/)




 


 



 


Dienstag, 28. September 2021

Buchvorstellung: Jazzforum Mödling – 40 Jahre Musikkultur

 

Buchvorstellung: Jazzforum Mödling – 40 Jahre Musikkultur

Geschichte entsteht, indem man sie aufzeichnet: Als Chronologie, als Erzählung und in der Sammlung von Berichten von denen, die dabei gewesen sind. Ich freue mich, dass Walter Ulreich nun dem legendären Jazzforum Mödling die längst verdiente Würde einer historischen Entität verleiht – und darüber, dass sein Buch auch meinen kleinen Bericht darüber enthält, zu welcher Durchbruchs- und Befreiungserfahrung mir das Jazzforum verhalf: 

Jazz is the Teacher, Funk is the Preacher! (James 'Blood' Ulmer).


Buchvorstellung: Sonntag, 3. Oktober 2021, Mautswirtshaus Mödling


Buchvorstellung: Jazzforum Mödling – 40 Jahre Musikkultur






Montag, 13. September 2021

Eben erschienen: Introducing Fritz Fro

 

Fritz Fro: Bricoleur im Samahdi

Fritz Fro: Bricoleur im Samahdi


Fritz Fro: Bricoleur im Samadhi [=Vorwort zum Werkkatalog Fritz Fro: Fritz Fro: Geräusch – Klang – Musik – Raum]. Wien: transferedition 2021, S. 3–4. ISBN 978-3-9503310-7-3

PDF Full version hier.... 


Der Katalog wird im Dezember 2021 @ Galerie/Projektraum mag3 präsentiert. 






Mittwoch, 18. August 2021

OUT NOW: Lesezeichen, Ausgabe 02/2021


 

Lesezeichen, Ausgabe 02/2021 vom 18. August 2021.

Marianne Büttiker: Filogramm. In: tempo fugato.
Marianne Büttiker: Filogramm. In: tempo fugato.
 

In dieser Ausgabe:

Lob des Universalatlas‘ – Hipsteradresse, ein Beliner Nasenstüber – Déjà-Vus und Haargummis – Staubtuch mit aufgewischten Wörtern als Filogramm – Hundertprozentige Vertrauenswürdigkeit ist ein Anspruch, den man keinem außerhalb des eigenen Gehirns zumuten sollte. – It is not the meaning of a work of art that is its primary message. It is the form of the artwork that is its primary message. – uvam. 

INHALT:

 

  •  Litblogs.net – Literarische und künstlerische Weblogs, hg. von Hartmut Abendschein, Markus Hediger und Chris Zintzen, Bern / Wien 2004-2021

Donnerstag, 15. Juli 2021

Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening

 

Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening


Lotte Lyon, Ausstellung Hard opening
mag3, 1020 Wien. Eröffnung 09.07.2021

Wir Kultuwissenschafter und Textproduzenten beneiden die Bildhauer: Wir schaffen Wortketten und unendliche Satzschlangen auf dem platten Papier und füllen diese in die leicht stapelbaren Container der Buchkultur. Selten wird es uns mit unseren Hervorbringungen gelingen, in den begehbaren, in den haptischen und in den körperlichen Raum vorzudringen. 

Bildhauer dahingegen wohnen und leben und arbeiten in Raum, ja, sie arbeiten ganz wesentlich mit der Dimension des Raums. Im Raumgreifenden verwirklichen sie sich: Gestatten, ich bin so frei: ich nehme mir den Raum.

Raum und Gestaltung

Im Thema des Raums und dessen Gestaltung (bzw. in dem Thema von “Gestaltung im Raum”) berühren einander die Disziplinen von Bildhauerei und Architektur. Gleich daneben wohnen die perspektivischen Traditionen der Zeichnung und die Kompositionsprinzipien der Malerei.

Für all diese Modalitäten der Behandlung, Darstellung, Gestaltung und Modellierung des Raums gilt allerdings eine fundamentale Regel: Raum wird erst durch seine Begrenzung und Rahmung wahrnehmbar. Schauen Sie sich um: Dieser Galerie- und Projektraum, wird durch seine Wände begrenzt und durch seine Öffnungen strukturiert: Türen und Fenster geben diesem Raum seine besondere Gestalt; anhand der Proportionen von Boden, Wänden und Decke erleben wir und erfahren wir den Raum und dessen Kubatur.

Wir selbst befinden uns als Körper in diesem Raum: Unsere eigene Körperlichkeit und das Verhältnis dieser körperlichen Dimension zur Dimension dieses Raumes bestimmen wesentlich, wie wir den uns umgebenden Raum wahrnehmen. Körper und Raum sind also wechselseitig aufeinander bezogen und sind von Begrenzungen (Rahmungen) bestimmt.

Vertikale Perspektive

Heute haben wir das Glück, neue skulpturale Arbeiten der Künstlerin Lotte Lyon in diesem Raum wahrnehmen zu dürfen. Wir sehen ein Arrangement von scheinbar einfachen Holzobjekten und wir sehen einen Paravent, einen Raumteiler aus Lochplatten. 

Vorangegangene Arbeiten der Künstlerin waren als lineare oder als flächige Gestaltungen auf Wänden aufgebracht oder waren als kubische Objekte auf den Boden platziert. in dieser Ausstellung aber montiert Lotte Lyon ihre Objekte an der Wand und bespielt damit die Vertikale. Die Objekte selbst haben das massive Aggregat der Bodenhaftung abgestreift: Als durchbrochene, gerahmte Rechtecke bieten diese Objekte jetzt neue Perspektiven.

Auffallend ist die lakonische Nüchternheit der Objekte. Die formale und materielle Reduktion dieser modellhaften Gestaltungen lädt dazu ein, über einen graduellen Vermittlungsprozess zwischen den planlinearen Zeichnung einerseits, dieser reduktionistischen Form der Skulptur und andererseits den Kubatur-Realisationen der Architektur nachzudenken. Und darüber, was Skulptur ist, in welche kulturellen und ästhetischen Praxen das Skulpturale eingebunden ist und welche Erwartungen wir üblicherweise dem Medium der Skulptur entgegenbringen. 


Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening

Skulptur als Medium

Auf diskrete Weise lenkt Lotte Lyon unseren Blick auf das Medium der Skulptur, die wir uns orthodoxer Weise als Festkörper im Raum, als zentralachsiales Gebilde, als Kunstwerk mit Schwerkraft vorstellen. Hier aber sehen wir etwas anderes: Wir sehen luftige Gebilde mit Ein- und Durchblick, wir sehen vertikal angebrachte Schau-Kästen, die der Schwer-Kraft des Skulpturalen entraten. Zudem verwandeln diese Objekte aufgrund ihrer visuellen und konstruktiven Transparenz ein traditionell tonnenschweres Thema der Kunstwahrnehmung in ein anregendes Spiel und suggerieren:

It is not the meaning of a work of art that is its primary message. It is the form of the artwork that is its primary message. 
Die primäre Botschaft eines Kunstwerks besteht nicht in seiner (möglichen) Bedeutung, sondern in seiner Form.

Das Geschäft des Deutens und Be-Deutens wird sekundär, denn Form an sich bedeutet ja etwas: Sie bedeutet Form, die es zu betrachten, die es zu erkunden, die es womöglich auch zu berühren und zu ertasten gilt. Anders als es die Interpretationsmaschinerie suggeriert, schöpft die Kunst ihre Seinsberechtigung nicht daraus, etwas zu bedeuten, eine “meaning” zu haben, ein Narrativ zu erstellen. Kunst ist keine Dienstleistung für “Sinn” oder “tiefere Bedeutung”.

Kunst ist, was sie ist – wie eine Blume ist, was sie ist.

Lakonische Objekte

In dieser Ausstellung der Form als Objekt der Form inszeniert Lotte Lyon einen Dialog zwischen BetrachterIn und Objekt. Die Objekte sind keine Multiples, sondern individuell angefertigte Stücke mit je individuellen Maßen. In wechselnden Variationen spielen die Einzelobjekte mit dem Motiv der Rahmung, mit der Idee des Kastens, mit dem Sujet der Leerstelle (Mallarmés blanc) sowie mit Fügungen aus rechten Winkeln und Schrägen bzw. Diagonalen.

Listig konfrontiert uns Lotte Lyon mit Offenheiten und Geschlossenheiten: Was wir sehen, ist oft zunächst einmal sozusagen das Brett vor dem eigenen Kopf. Denn trivialerweise erinnern uns diese Objekte – zumal in Augenhöhe und in Reichweite angebracht – an bekannte Dinge aus unserem Alltag: Fenster, Schränke, Kästchen, usw. Und doch hat jedes einzelne Objekt eine kleine Verfremdung eingebaut, die uns darauf aufmerksam macht, dass uns diese offenbar so durchschaubaren Objekte paradoxerweise mit etwas konfrontieren, das wir noch nie gesehen haben.

Lotte Lyons lakonische Objekte lenken das Augenmerk darauf, in welch hohem Maße der Raum nur anhand seiner Umgrenzungen wahrnehmbar ist, wie sehr das Gestalten das Nicht-Gestalten miteinschließt und wie sehr nicht zuletzt das Sagen und das Zeigen auf dem Schweigen, auf der Lücke und auf der Leerstelle beruhen. 

Lyons Arbeiten schärfen unseren Sinn für die Verschränkung des “Sehens, was ist” mit dem “Sehen, was nicht ist”. 

Sehen wir also zu, Lotte Lyons Objekte anzusehen.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.



Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening










Sonntag, 6. Juni 2021

das hündchen - Mit einer Zeichnung von Friederike Mayröcker




Friederike Mayröcker ist am 4. Juni verstorben. Wenige Menschen vermochten es ihr gleich zu tun in dem, was man "Begegnung" nennt. Eine Begegnung aus Ferne und Nähe zugleich, dicht und da und am Punkt des Moments und im Augenblick des Worts, dann wieder von einem Hauch erfasst und wieder entfernt, so zart, dass man nicht zu greifen und zu fassen oder nachfzufragen wagte. 

Ihre Stimme im Ohr, ihre Verse, deren Intonation in der Mitte, in Schwebe zu bleiben pflegten oder wie fragend und tastend nach oben auslauteten, als gelte es, noch weiter auszuholen, weitere Valenzen zu öffnen und jedenfalls: keinen Punkt zu machen. 

Ohne Punkt


Denn Poesie hat keinen Punkt, kan keinen Punkt haben, da sie als Künstlichstes dem Natürlichen nahekommt. Eine Seins-, Wahrnehmungs- und Schaffensweise, die ständig keimt und wächst und die, wie bei Friederike Mayröcker, sogar entlang von theoretischen und philosophischen Konzepten rankt und wuchert. Progressive Universalpoesie als Lebensmittel.  

Schließlich: Glaubwürdigkeit. Und das ist etwas besonders Rares. 

Arachne im Netz


Die Gewiißheit, dass Friederike an einem ganz bestimmten Ort dieser Stadt, in der Zentagasse im 5. Bezirk, lebt und arbeitet und als nimmermüde Arachne an ihrem poetischen Weltnetz spinnt, hat mich über Jahrzehnte als Gewissheit um die Realität der Poesie begleitet. Man konnte diese Weltwerkstatt per Telefon oder sogar mit dem Fahrrad ebenso erreichen wie man sich von dieser Weltwerkstatt immer wieder und immer weiter erreichen lassen kann, indem man eines ihrer Bücher aufschlägt, ihre Tonaufnahmen hört oder Angelika Kaufmanns Verschriftungen betrachtet.

In welchem Maß die Literatur eine Heimat darstellt, so tief und so weit wie die Kindheitslandschaften, wird uns erst bewusst, wenn uns ihre Schöpfer leiblich verlassen. "In einer Landschaft wie dieser" (Lars Gustafsson) wollen wir bleiben und uns dort beherbergen lassen. 

Landschaft wie diese


Einem Verharren dort nachzusehnen, hieße allerdings, im Modus der Regression und in der Vergangenheit gefangen zu bleiben. Der Tod lieber Menschen beauftragt uns mit der unmittelbaren Gegenwart, fern der Sentimentalität. 

Wenn nicht jetzt der Zeitpunkt ist, die Poesie bewusst wachzuhalten und atmen zu lassen: Wann dann?

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Friederike Mayröcker: das hündchen (Zeichnung für Chris Zintzen 2009)

Zeichnung: Friederike Mayröcker, 2009 (für meinen Hund)

2009 zeichnete Friederike Mayröcker meinen Hund und es entspannen sich Unterhaltungen und eine kleine Korrespondenz zum Thema. Aus dem Material wurde 2012 ein Gedicht: "das hündchen".

Erstdruck: Schwerpunktheft “Friederike Mayröcker” der Literaturzeichrift MATRIX 28/2012, hg. von Theo Breuer, Pop-Verlag, Ludwigsburg.


das hündchen


// für Friederike Mayröcker //



es sei, so sie, ein erstaunen gewesen,
es sei, als hätten wir's gewusst,
es sei ein hin- und hergeworfner ball, ein bild gewesen:
     zwischen ihr und ihm
sei die idee des hündchens, mit dem sie über hügel stiebe,
sei schieres bild geblieben;
sei beiden leibhaft unvereinbar erschienen
     mit der täglichen fährtenlese des zu schreibenden.
und als er dann jäh fort gewesen,
und wir weder worte des nachrufs noch des trostes gekonnt,
und wir das figürchen genommen – blau geäderte weisse keramik (delft gedacht) – 
und es ein kauernd aufmerkendes hündchen gewesen
und dies ihr statt der worte als ein zeichen geschickt.
und so war das hündchen, wie sie dann schrieb, aus dem simplen ding
und wieder ein lächelndes thema geworden
und sie inbegriffen wie auch ihn erinnernd,
und sie uns (das echte haarichte tier und mich) grosszügig eingelassen
     in jenes motiv via stetig erneuerter briefe und skizzen.

wien, 13.03.2012