Montag, 17. August 2020

Walter Baier: Eine Wissenschaft vom gesellschaftlichen Menschen.

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Verdinglichung“, Mag3, Wien, 28.07.2020

Verdinglichung. Ausstellung Chris Zintzen, Gue Schmidt, Fritz Fro @ Mag3, Wien, Juli/August 2020


Danke für Ihre Einladung!
Ich bin kein Kulturwissenschaftler oder Kunsttheoretiker, und will auch nicht als solcher dilettieren, sondern ich bin Ökonom. Ich weiß nicht, ob Sie mich gerade deswegen zu dieser Ausstellungseröffnung eingeladen haben, aber ich habe die Einladung vor allem deswegen angenommen. Wir befinden uns möglicher Weise am Beginn einer weltweiten ökonomischen Krise und ich ergreife daher gern die Gelegenheit, über Fragen der Ökonomie, das heißt, die Ökonomisierung unseres Alltags und unserer Persönlichkeiten zu reden. Exakt dies aber ist die Frage der Verdinglichung.

Der Begriff der Verdinglichung stammt von dem ungarischen Philosophen Georg/György Lukács, der 2016 dadurch geehrt wurde, dass das Archiv seiner Werke und Manuskripte durch das semifaschistische Orbàn-Regime geschlossen wurde. Ähnliche postume Ehrung wurde übrigens 2018 auch Rosa Luxemburg zuteil, deren Gedenktafel von ihrem Geburtshaus in Zamosc durch die polnischen Behörden entfernt wurde.

Zu Georg Lukàcs
„Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt.“, so beginn er seine 1916 publizierte Theorie des Romans.

Der Verlust der unmittelbaren Lesbarkeit der Existenz, das heißt das Auseinanderfallen von Wesen und Leben für den modernen bürgerlichen Menschen, beklagt der unter dem Einfluss seines Lehrers Georg Simmel und der Lebensphilosophie stehende Lukács. Dies bildet den Ausgangspunkt seiner Romantheorie, vielleicht seines gesamten Schaffens.
Ich spreche heute vor allem über den in Geschichte und Klassenbewusstsein veröffentlichten Essay Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. Sieben Jahren waren seit der Veröffentlichung der Theorie des Romans vergangen; der Erste Weltkrieg hatte 15 Millionen Tote gefordert, den Zusammenbruch die alte europäische Staatenordnung bestand nicht mehr, und in Russland hatten zwei Revolutionen stattgefunden, die die Bolschewiki an die Macht brachten. Lukács war Mitglied der Kommunistischen Partei Ungarns und hatte auch der kurzzeitigen ungarischen Räteregierung angehört. Alles dies spiegelt sich in dem Buch wieder, dessen Hauptstück der Verdinglichungsessay bildet.

Der Inhalt des Texts besteht vor allem in seiner peniblen Rekonstruktion der Marx‘ Werttheorie, und hier des 4. Abschnitts des ersten Kapitels Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheiminis. Tatsächlich bildet dies auch den philosophischen und methodologischen Kern des Kapital.

"Wirtschaft"
Worin besteht seine umwälzende Bedeutung für die Sozial- und Kulturwissenschaften?
Suchen Sie die Begriffsdefinition für das Wort Wirtschaft in Wikipedia, finden Sie, dass Wirtschaft die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen darstelle, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen. Selbiges in jedem beliebigen Lehrbuch der Wirtschaftswissenschaften: Hier wird Wirtschaft zumeist als der Umgang mit knappen Gütern definiert.

Lassen Sie sich nicht von dem gewaltigen Apparat mathematischer und statistischer Methoden irritieren, die auf dieser Definition aufbauen. Ihr Kern besteht darin: Wirtschaft wird uns als die Beziehung des einzelnen Menschen zu den Dingen, die er für sein Leben benötigt, und zu den technischen Hilfsmitteln, die er zu ihrer Beschaffung/Produktion in Gang setzt, vorgestellt. Ökonomie ist die Wissenschaft von der rationellen Beschaffung der überlebenswichtigen Gebrauchswerte. Eine Technik, wenn Sie so wollen.

Marx: Arbeitsteilung, Tauschhandel
Marx bestätigt einerseits diesen Gedanken, erkennt in der Produktion von Gebrauchswerten eine Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens, fragt aber: Was geht in einer Gesellschaft vor, deren Arbeitsteilung durch Tauschhandel vermittelt ist? Hier produzieren Menschen nicht, um den eigenen Bedarf zu decken, oder um mit anderen zu teilen, sondern befriedigen ihre Bedürfnisse, indem sie für die Befriedigung der Bedürfnisse anderer produzieren und ihr Produkt gegen andere Ware oder Geld auf dem Markt tauschen.
Um austauschbar zu sein, müssen die unterschiedlichen Güter, mit ihren spezifischen Nützlichkeiten/Gebrauchswerten auch Träger eines Gemeinsamen sein. Als diese gemeinsame Substanz aller Güter erkennt Marx, dass sie Mengen gesellschaftlicher, der Form nach individuell geleisteter Arbeit enthalten, die sich durch den Tausch als Beitrag zur Gesellschaft erweisen.
Den Tauschenden erscheint das zwischen ihnen bestehende gesellschaftliche Band als über die Dinge, die sie tauschen, vermittelt, so Marx‘ These, die aus einer Wirtschaftswissenschaft, die sich mit Sachen beschäftigt, eine Wissenschaft macht, die die sozialen Verhältnisse untersucht, die die Menschen bei der Produktion ihrer Bedarfsgüter eingehen: Eine Wissenschaft vom gesellschaftlichen Menschen. Marx bezeichnet dieses In-den-Dingen-Erscheinen der menschlichen Beziehungen als Warenfetischismus und Lukács als Verdinglichung. Verdinglichen ist ein transitives Verb: Wer oder was wird verdinglicht?

Warenfetischismus und Verdinglichung/Entfremdung
Wie Marx im Kapital schreibt: „Das Geheimnisvolle der Warenproduktion besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen.“ (Marx: Kapital, Bd. 1, S. 86)

Die hohe Wertschätzung, der sich Lukács‘ Essay erfreut, verdankt sich der Sensibilität, mit der er über die Folgen, die diese Konstellation für die Subjekte hat, nachdenkt:
„So wie das kapitalistische System sich ökonomisch fortwährend auf höherer Stufenleiter produziert und reproduziert, so senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewusstsein der Menschen,“ schreibt er (Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, S.104).

So erweist sich aufgrund der „scheinbar restlosen. zutiefst in das Physische und Psychische hineinreichenden Rationalisierung der Welt der Warenfetischismus als ein spezifisches Problem unserer Epoche“ (Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein). Womit wir auch an die in der Theorie des Romans aufgeworfenen Problematik anknüpfen können.

Es liegt mir fern, die Bedeutung von Lukács-Verdinglichungsessay zu relativieren. Erwähnt muss aber werden, dass sich sein Alleinstellungsmerkmal innerhalb der zeitgenössischen marxistischen Literatur auch einem speziellen Umstand der Veröffentlichungsgeschichte des Werks von Karl Marx verdankt: Erst 1932, sechs Jahre nach Geschichte und Klassenbewusstsein erschienen in Moskau die auch als Pariser Manuskripte bekannten Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von 1844, veröffentlicht und herausgegeben vom Marx-Engels-Institut, dessen Leiter David Borissowitsch Rjasanow gemaßregelt und 1938 als Volksfeind zum Tode verurteilt wurde. 1939 bis 1941 erschienen schließlich die Grundrisse der Politischen Ökonomie.

Von beiden Werken ging ein mächtiger Impuls für die Erneuerung des Marxismus auf undogmatischer Grundlage aus. Vielfach nimmt der junge Marx in diesen so spät veröffentlichten Werken von Lukács entwickelte Thesen vorweg:
„An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten“. (Marx: Pariser Manuskripte,  S.80).

Wir finden auch darüber Hinausgehendes: Während bei Lukács die Verdinglichung im Sinnes eines für die bürgerliche Epoche charakteristischen Zustandes vorgestellt wird, beschreibt bereits der junge Marx in den Pariser Manuskripten, mit dem (dem Hegel’schen Vokabular entlehnten) Begriff der Entfremdung eine Dynamik, die sich aus Kauf und Verkauf der speziellen Ware „Arbeitskraft“ gegen Arbeitslohn ergibt, und deren Substrat der Mehrwert und dessen Akkumulation auf der Seite der Kapitalbesitzer bildet.
„Der Arbeiter wird eine umso wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware.“ (Marx: Pariser Manuskripte, S.52).
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Weltdokumentenerbe | Weltmarkt
Sie werden Sich jetzt vielleicht denken, das ist wohl Weltliteratur. Und tatsächlich wurde ja das Kommunistische Manifest und das Kapital 2013 von der UNESCO als Teil des Weltdokumentenerbes anerkannt. Was aber haben wir davon, zu wissen, dass die bürgerliche, also die herrschende Ökonomie die Bewegung von Sachen beschreibt, unter deren Herrschaft die Menschen stehen, während es bei Marx um die gesellschaftlichen Verhältnisse geht, die die Menschen eingehen, und die sie an einer Emanzipation hindern. – Als Antwort möchte ich eine Empfehlung aussprechen: Wann immer Sie in der Zeitung Begriffe lesen wie „Aktienkurs“, „Investitionen“, „Geldmenge“ „Staatsschulden“, „Quantitative Easing“ etc., seien Sie sich der Tatsache bewusst, dass diese Aggregate Ihr tägliches Leben beherrschen, und zwar in einem Ausmaß, über das Sie  sich nur selten Rechenschaft ablegen. Bedenken Sie darüber hinaus folgendes Zitat von Karl Marx:
„Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie selbst zu kontrollieren.“ (Marx: Das Kapital, Bd. 1., S.89)

Bedenken Sie, wenn Sie Wirtschaftsfachleuten zuhören, dass der heutige Kapitalismus ein weltumspannendes System geworden ist und zwar in einem Ausmaß, das weder für Marx noch für Lukács vorstellbar war.

Letztes Jahr wurden an den weltweiten Devisenbörsen pro Tag 6.590 Milliarden USD umgesetzt, hier schließen sich an die Zahl 6.590 neun Nullen an, und ich bin froh, dass diese Zahl pro Tag angegeben wird, da sie – mit 365 multipliziert – nur schwer zu artikulieren wäre.
Breaking News: Vergangenen Freitag vermehrte sich Jeff Bezos‘ Vermögen durch Bewegung an den Börsen um 12 Milliarden USD.
Denken Sie an die Gewalt und die Tragödien, die in dieser Bewegung von Sach- und Geldwerten inbegriffen sind: Umweltzerstörung, Land Grabbing, Vernichtung der Tropenwälder, Rüstungsproduktion und Rüstungsexporte, Drogenhandel, Versklavung von weltweit über 40 Millionen Menschen und vieles Andere.

Wo aber bleibt das Optimistische?
Es besteht darin, dass es soziale Beziehungen sind, die hinter der Bewegung der Sachen erscheinen. Beziehungen, die für Veränderung offen sind. Das heißt, es geht darum, diese Beziehungen aus ihrer Verdinglichung herauszulösen, umzuwandeln, also in humane, bewusst gesteuerte und demokratisch geregelte, menschliche Beziehungen zurück zu drehen.
Die heutigen weltweiten Krisen lassen das immer mehr zum unabweislichen Imperativ des Überlebens werden.
Wie das gehen kann? Dies wäre wohl das Thema für Ihre nächste Ausstellung!

Literatur
  • Georg Lukács: Theorie des Romans Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin 1963.
  • Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über die marxistische Dialektik, Malik Verlag, Berlin 1923.
  • Karl Marx: Das Kapital Bd.1. Marx-Engels-Werke (MEW) Dietz Verlag Berlin 1974
  • Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Pariser Manuskripte 1844. In: Texte zur Methode und Praxis, Rowohlt, 1966.


Walter Baier
Jg. 1954, Wirtschaftswissenschafter, bis 2006 Vorsitzender der KPÖ und Herausgeber der Volksstimme, Gründungsmitglied der Europäischen Linken, seit 2006 Koordinator des europäischen Forschungs- und Bildungsnetzwerks „transform! europe – network for alternative thinking and political dialogue“.