Dienstag, 21. Mai 2024

Termin: „neue texte“-Essaypreis, 13. Juni 2024

 

Heimrad Bäcker: neue texte*. Titelblatt des ersten Hefts, November 1968. © Literaturarchiv der ÖNB, Wien. Quelle: Stifterhau/Eder

 

Verleihung der Heimrad-Bäcker-Preise 2024

 

Laudatio: Ferdinand Schmatz

Lesung Sandro Huber (Förderpreis zum Heimrad-Bäcker-Preis)

Laudatio: Erwin Uhrmann

Lesung Ilse Kilic (Heimrad-Bäcker-Preis)

Chris Zintzen („neue texte“-Essaypreis 2024), Gespräch mit Thomas Eder

 

 

„Die Heimrad-Bäcker-Preise sind somit die einzigen österreichischen Preise, die ... entschieden zur Förderung von Literatur aus dem Umfeld dessen verliehen werden, was als experimentelle Dichtung zu betrachten ist.Der neue texte–Essaypreis zeichnet herausragende Stimmen auf dem Feld der literarischen Essayistik aus.“ 

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*Heimrad Bäcker gehört als Verleger und Autor zu den herausragenden Erscheinungen der österreichischen Literatur nach 1945. In einer Zeit, da sich konkrete Poesie durch Anthologien (z. B. Williams 1967; Solt 1970; Gomringer 1972) und retrospektive Selbstbestimmungen zu historisieren beginnt, entsteht seine Zeitschrift neue texte und bleibt bis zum Ende ihres Bestehens (1992) eines der bedeutendsten Foren der sogenannten konkreten Poesie, die sich selbst neu zu definieren versucht. Der Kritik von außen, etwa dem Vorwurf ihrer „Sterilität“ (Friedrich 1966, Vorwort), korrespondiert zu Beginn der 1970er Jahre eine zunehmende Unbestimmtheit des Begriffs „konkret“ bei ihren eigenen Vertretern. Dem darauf folgenden Umbruch von konkreter zu visueller und konzeptioneller Poesie bieten die neuen texte ein Publikationsorgan, das neben international arrivierten auch jüngere und (damals) noch unbekannte Autoren und Autorinnen präsentiert und so die lebendige Auseinandersetzung zwischen dogmatischen, am Begriff des konkreten Texts orientierten Arbeiten und neuen, experimentellen Formen auch in der medial-formalen Darstellungsweise (Kombination von Bild-, Foto-, Textarbeiten, experimentelles Hörspiel, Dokumentation von Performances und Aktionen etc.) zeigt. – Thomas Eder: neue texte; edition neue texte. https://www.stifterhaus.at/stichwoerter/neue-texte-edition-neue-texte. 

 

 

Dienstag, 14. Mai 2024

Erschienen: "Nieder mit den Schloten und Elfenbeintürmen!"




"Wo die Elfenbeintürme dieser Welt nicht denkbar sind ohne die ihnen ursächlich vorausgehenden Fabrikschlote, wäre – wie wir heute erkennen – nur in der Schleifung beider ein Schritt in Richtung einer Rückbesinnung des Homo Sapiens auf eine weniger vernichtende Auswirkung seiner Spezies auf diesen Planeten zu erlangen."


Nieder mit den Schloten und Elfenbeintürmen! Über Literatur und Narrentum, Kitsch und Subjekt.

In: kolik. Zeitschrift für Literatur 96/2024, 103–106. 

 


Dieser Text entstand im Nachgang zu der von Ulrike Tauss und Thomas Antonic veranstalteten Lesung/Performance im Wiener Narrenturm (September 2023). 

Der Essay wird demnächst im Rahmen einer Anthologie bei Moloko Print (Berlin) erscheinen. 

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Freitag, 3. Mai 2024

Erschienen: Die Opfer von Donaublau. Zu Marianne Fritz' "Schwerkraft der Verhältnisse"

 

Werk und Schreibhaltung der Autorin Marianne Fritz geben mir seit dreißig Jahren zu denken. Die Beobachtung des Neuen Wiener Symposiums zu Marianne Fritz im Jahr 1994, sodann die Kooperation mit der Gruppe Fritzpunkt für Literatur als Radiokunst zehn Jahre später, nicht zuletzt einige schweifende Lektüren innerhalb der Textgelände der Autorin trugen nicht eben zur Beruhigung bei. 

Die Neu-Edition des Bandes Die Schwerkraft der Verhältnisse gibt Gelegenheit zur neuerlichen Beschau eines Textbegehrens, dessen Analyse mit Friedrich Heers 1981 formuliertem Ruf nach der Notwendigkeit einer österreichischen „Psychohistorie“ in Zusammenhang gebracht wird. Die Schwerkraft der Verhältnisse war 1976 erschienen, ich halte diesen historischen Index der Publikation für relevant. 

 

[...] Denn das knapp 135-seitige Büchlein ist mitnichten ein Leichtgewicht, sondern könnte – so viel vorweg – zu einer Kompilation jener fehlenden österreichischen «Psychohistorie» beitragen, die Friedrich Heer in Der Kampf um die österreichische Identität 1981 als «dringend[es]» Desiderat eingemahnt hat. 

Eine zentrale Rolle in einer solchen Psychohistorie käme den Kriegen des 20. Jahrhunderts zu, insbesondere den Frontlinien in den Hinterlanden des (einstigen) Habsburgerreiches: Mit den – auch seelischen – Hinterlanden beziehungsweise Hinterlassenschaften beider Weltkriege hat sich Fritz zeitlebens literarisch beschäftigt. Es scheint, als habe sie sich im Fortschritt ihrer immensen Schreibarbeit immer weiter nach Osten bewegt. Das Buch Die Schwerkraft der Verhältnisse, ihr akklamierter Erstling in der literarischen Welt, könnte – so die Vermutung – vielleicht das westlichste Werk der Autorin sein: Dies betrifft einerseits die Situierung des Geschehens in dem fiktiven Ort Donaublau im Österreich der Zweiten Republik. Dies umfasst aber möglicherweise auch dramaturgische und motivische Bezüge auf westeuropäische Literaturen sowie philosophische oder gesellschaftspolitische Konzepte, wie sie etwa in Brechts epischem Theater verhandelt werden.

Denn Marianne Fritz «erzählt» nicht in einem traditionellen, konsekutiven, zwischen Faktum und Gefühl, Innen- und Außenperspektive, Faktizität und Ambiance, Handeln und Werden, Aktiv und Passiv unterscheidenden Sinn. Geradezu im Gegenteil inszeniert die Autorin eine zwingend erscheinende Drift jener titelgebenden Verhältnisse, welche die Zentralfigur in ein Verhängnis treiben werden. Anders als es der wald- und wiesen-psychologische Roman oder Film gemeinhin exekutieren, um die Zuspitzung der mentalen Zustände einer Figur bis hin zu einer Extrem- oder Gewalttat zu illustrieren, verzichtet Fritz auf die konventionellen literarischen Mittel der psychologischen Figuren-Modellierung.  

Die Personagen werden in ihrem (Sprach-)Verhalten und in ihren Verhältnissen vorgeführt, wobei die Verhältnisse in doppeltem Sinne einerseits als sozioökonomische (Angestelltenverhältnisse, Dienstpflichten, Wohlstand als Erwerb eines PKW) figurieren, andererseits als Beziehungskonstellationen eine determinierende Rolle spielen. 

Anders gesagt: Die solcherart polyvalenten und überdeterminierten Verhältnisse konstituieren als erzählte Wirklichkeit (recte: als Planspiel) ein alles andere ausschließendes, ausschließliches und geschlossenes System. Auch hier gilt die Regel, dass die reziproke Bezogenheit der Elemente eines Systems aufeinander sich umgekehrt proportional zur Größe des Systems verhält. Wir ahnen es bereits: Hier droht Entropie. [...]


Pathos/Sprachlosigkeit/Verweigerung

 

Marianne Fritz’ zwischen Krieg und Kindermord, Schlachtfeld und Psychiatrie aufgespanntes Szenario geizt nicht mit topischem und symbolischem Pathos. Das Unvermögen der Figuren, sich im Hinblick auf eine mögliche autonome (oder gemeinsam) gestaltbare Realität wirksam mitzuteilen, entspricht dem von der österreichischen Literatur des dritten Drittels des 20. Jahrhunderts (Jandl, Mitterer, Turrini) in mannigfaltigen Varianten realisierten Topos der Sprachlosigkeit beziehungsweise der von dem Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler wiederholt diagnostizierten «Verweigerung». 

Sprechende Namen wie Faust oder Schrei akzentuieren expressionistisch eher einen transpersonalen oder überindividuellen Typus denn eine individuelle Persönlichkeit, könnten aber auch in Anlehnung an die «sprechend» benannten Figuren (Kien, Pfaff) aus Canettis Blendung und damit – freilich vermittelt – in einer Tradition der Groteske, der Moritat und des Wiener Volkstheaters verstanden werden. Die als in Österreich befindlich markierten fiktiven Örtlichkeiten Donaublau oder Felsenstein lassen an Hans Leberts fiktiven Ort Schweigen ebenso denken wie an Thomas Bernhards oder Elfriede Jelineks unheilvolle Topografien.

 

Subjekt oder Objekt der Geschichte

 

In diesem Zusammenhang kommt der Autor dieser Zeilen noch einmal auf Friedrich Heers Ruf nach einer österreichischen Psychohistorie zurück. Indem wir mit Marianne Fritz’ Erstling in die Nachkriegszeit des österreichischen 20. Jahrhunderts zurücktauchen und damit auch die Entstehungszeit des Textes in den 1970er-Jahren reflektieren, fällt etwas auf: Das eigentliche «Subjekt» dieses Buches sind die Verhältnisse. Die Protagonist*innen des Textes erhalten keine Chance auf etwelche Handlungsfähigkeit, weder in der Story noch in dem, was hier jetzt einmal kurzum als History bezeichnet werden soll: Auf engstem Raum arbeiten sich die Figuren aneinander ab, ohne dabei je von der Stelle zu kommen. 

Die von Fritz plural orchestrierte kalte Hölle einer ausweglosen Kleinräumigkeit erinnert wohl nicht zufällig an Sartres «l’enfer, c’est les autres», denn in einer Geschlossenen Gesellschaft handelt ja auch das Buch von Marianne Fritz. Hier «handelt» indes niemand im Sinne von Bewusstheit, Erkenntnis, Einsicht, Autonomie oder Selbstermächtigung; das Personal des Textes agiert nicht, sondern re-agiert. Sämtlich werden diese Figuren als Objekte von – übrigens nur diffus suggerierten – Verhältnissen dargestellt, denen sie angeblich alternativlos ausgeliefert seien. Die Getriebenheit der Figuren scheint zu legitimieren, dass sie ihrerseits Gewalt ausüben und weitergeben. Ich halte dies für ein wichtiges Indiz. 

Indem die nicht nur auktoriale, sondern geradezu autoritäre Regie des Textes die Tunnel-Logik einer derartigen – angeblichen oder angenommenen – Getriebenheit ästhetisch als historische Notwendigkeit präsentiert, prolongiert sie das Lied vom «Opfer Österreich» als Gründungsmythos der Zweiten Republik. Acht Jahre nach Erscheinen der Schwerkraft der Verhältnisse trug die Waldheim-Affäre 1986 erheblich dazu bei, dass die aktive und oft bewusst-absichtsvolle österreichische Mittäterschaft am verbrecherischen Regime und bei den Gräueln des Nationalsozialismus allmählich dem bislang beredten Verschweigen entrissen worden ist.


Der Essay ist im Themenheft No Future der Zeitschrift Wespennest erschienen.

⇒ Text (als pdf):  Die Opfer von Donaublau. Marianne Fritz’ Die Schwerkraft der Verhältnisse in neuer Ausgabe. In: Wespennest 186/2024 (Mai 2024), 88–91.

 

Chris Zintzen: Die Opfer von Donaublau. Marianne Fritz’ Die Schwerkraft der Verhältnisse in neuer Ausgabe. In: Wespennest 186/2024 (Mai 2024), 88–91.