Werk und Schreibhaltung der Autorin Marianne Fritz geben mir seit dreißig Jahren zu denken. Die Beobachtung des Neuen Wiener Symposiums zu Marianne Fritz im Jahr 1994, sodann die Kooperation mit der Gruppe Fritzpunkt für Literatur als Radiokunst zehn Jahre später, nicht zuletzt einige schweifende Lektüren innerhalb der Textgelände der Autorin trugen nicht eben zur Beruhigung bei.
Die Neu-Edition des Bandes Die Schwerkraft der Verhältnisse gibt
Gelegenheit zur neuerlichen Beschau eines Textbegehrens, dessen Analyse
mit Friedrich Heers 1981 formuliertem Ruf nach der Notwendigkeit einer
österreichischen „Psychohistorie“ in Zusammenhang gebracht wird. Die Schwerkraft der Verhältnisse war 1976 erschienen, ich halte diesen historischen Index der Publikation für relevant.
[...] Denn das knapp 135-seitige Büchlein ist mitnichten ein Leichtgewicht, sondern könnte – so viel vorweg – zu einer Kompilation jener fehlenden österreichischen «Psychohistorie» beitragen, die Friedrich Heer in Der Kampf um die österreichische Identität 1981 als «dringend[es]» Desiderat eingemahnt hat.
Eine zentrale Rolle in einer solchen Psychohistorie käme den Kriegen des 20. Jahrhunderts zu, insbesondere den Frontlinien in den Hinterlanden des (einstigen) Habsburgerreiches: Mit den – auch seelischen – Hinterlanden beziehungsweise Hinterlassenschaften beider Weltkriege hat sich Fritz zeitlebens literarisch beschäftigt. Es scheint, als habe sie sich im Fortschritt ihrer immensen Schreibarbeit immer weiter nach Osten bewegt. Das Buch Die Schwerkraft der Verhältnisse, ihr akklamierter Erstling in der literarischen Welt, könnte – so die Vermutung – vielleicht das westlichste Werk der Autorin sein: Dies betrifft einerseits die Situierung des Geschehens in dem fiktiven Ort Donaublau im Österreich der Zweiten Republik. Dies umfasst aber möglicherweise auch dramaturgische und motivische Bezüge auf westeuropäische Literaturen sowie philosophische oder gesellschaftspolitische Konzepte, wie sie etwa in Brechts epischem Theater verhandelt werden.
Denn Marianne Fritz «erzählt» nicht in einem traditionellen, konsekutiven, zwischen Faktum und Gefühl, Innen- und Außenperspektive, Faktizität und Ambiance, Handeln und Werden, Aktiv und Passiv unterscheidenden Sinn. Geradezu im Gegenteil inszeniert die Autorin eine zwingend erscheinende Drift jener titelgebenden Verhältnisse, welche die Zentralfigur in ein Verhängnis treiben werden. Anders als es der wald- und wiesen-psychologische Roman oder Film gemeinhin exekutieren, um die Zuspitzung der mentalen Zustände einer Figur bis hin zu einer Extrem- oder Gewalttat zu illustrieren, verzichtet Fritz auf die konventionellen literarischen Mittel der psychologischen Figuren-Modellierung.
Die Personagen werden in ihrem (Sprach-)Verhalten und in ihren Verhältnissen vorgeführt, wobei die Verhältnisse in doppeltem Sinne einerseits als sozioökonomische (Angestelltenverhältnisse, Dienstpflichten, Wohlstand als Erwerb eines PKW) figurieren, andererseits als Beziehungskonstellationen eine determinierende Rolle spielen.
Anders gesagt: Die solcherart polyvalenten und überdeterminierten Verhältnisse konstituieren als erzählte Wirklichkeit (recte: als Planspiel) ein alles andere ausschließendes, ausschließliches und geschlossenes System. Auch hier gilt die Regel, dass die reziproke Bezogenheit der Elemente eines Systems aufeinander sich umgekehrt proportional zur Größe des Systems verhält. Wir ahnen es bereits: Hier droht Entropie. [...]
Pathos/Sprachlosigkeit/Verweigerung
Marianne Fritz’ zwischen Krieg und Kindermord, Schlachtfeld und Psychiatrie aufgespanntes Szenario geizt nicht mit topischem und symbolischem Pathos. Das Unvermögen der Figuren, sich im Hinblick auf eine mögliche autonome (oder gemeinsam) gestaltbare Realität wirksam mitzuteilen, entspricht dem von der österreichischen Literatur des dritten Drittels des 20. Jahrhunderts (Jandl, Mitterer, Turrini) in mannigfaltigen Varianten realisierten Topos der Sprachlosigkeit beziehungsweise der von dem Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler wiederholt diagnostizierten «Verweigerung».
Sprechende Namen wie Faust oder Schrei akzentuieren expressionistisch eher einen transpersonalen oder überindividuellen Typus denn eine individuelle Persönlichkeit, könnten aber auch in Anlehnung an die «sprechend» benannten Figuren (Kien, Pfaff) aus Canettis Blendung und damit – freilich vermittelt – in einer Tradition der Groteske, der Moritat und des Wiener Volkstheaters verstanden werden. Die als in Österreich befindlich markierten fiktiven Örtlichkeiten Donaublau oder Felsenstein lassen an Hans Leberts fiktiven Ort Schweigen ebenso denken wie an Thomas Bernhards oder Elfriede Jelineks unheilvolle Topografien.
Subjekt oder Objekt der Geschichte
In diesem Zusammenhang kommt der Autor dieser Zeilen noch einmal auf Friedrich Heers Ruf nach einer österreichischen Psychohistorie zurück. Indem wir mit Marianne Fritz’ Erstling in die Nachkriegszeit des österreichischen 20. Jahrhunderts zurücktauchen und damit auch die Entstehungszeit des Textes in den 1970er-Jahren reflektieren, fällt etwas auf: Das eigentliche «Subjekt» dieses Buches sind die Verhältnisse. Die Protagonist*innen des Textes erhalten keine Chance auf etwelche Handlungsfähigkeit, weder in der Story noch in dem, was hier jetzt einmal kurzum als History bezeichnet werden soll: Auf engstem Raum arbeiten sich die Figuren aneinander ab, ohne dabei je von der Stelle zu kommen.
Die von Fritz plural orchestrierte kalte Hölle einer ausweglosen Kleinräumigkeit erinnert wohl nicht zufällig an Sartres «l’enfer, c’est les autres», denn in einer Geschlossenen Gesellschaft handelt ja auch das Buch von Marianne Fritz. Hier «handelt» indes niemand im Sinne von Bewusstheit, Erkenntnis, Einsicht, Autonomie oder Selbstermächtigung; das Personal des Textes agiert nicht, sondern re-agiert. Sämtlich werden diese Figuren als Objekte von – übrigens nur diffus suggerierten – Verhältnissen dargestellt, denen sie angeblich alternativlos ausgeliefert seien. Die Getriebenheit der Figuren scheint zu legitimieren, dass sie ihrerseits Gewalt ausüben und weitergeben. Ich halte dies für ein wichtiges Indiz.
Indem die nicht nur auktoriale, sondern geradezu autoritäre Regie des Textes die Tunnel-Logik einer derartigen – angeblichen oder angenommenen – Getriebenheit ästhetisch als historische Notwendigkeit präsentiert, prolongiert sie das Lied vom «Opfer Österreich» als Gründungsmythos der Zweiten Republik. Acht Jahre nach Erscheinen der Schwerkraft der Verhältnisse trug die Waldheim-Affäre 1986 erheblich dazu bei, dass die aktive und oft bewusst-absichtsvolle österreichische Mittäterschaft am verbrecherischen Regime und bei den Gräueln des Nationalsozialismus allmählich dem bislang beredten Verschweigen entrissen worden ist.
Der Essay ist im Themenheft No Future der Zeitschrift Wespennest erschienen.
⇒ Text (als pdf): Die Opfer von Donaublau. Marianne Fritz’ Die Schwerkraft der Verhältnisse in neuer Ausgabe. In: Wespennest 186/2024 (Mai 2024), 88–91.