Montag, 17. November 2025

Erschienen: Essay zu Barbara Köhler, Schriftstellen (Suhrkamp)


Barbara Köhler bei der Produktion ihres Hörstücks „Echos Quelle“ im ORF-Studio. Ursendung: 11.07.2006, „Literatur als Radiokunst“ im ORF „Kunstradio“. Foto @ Zintzen 2006, abgedruckt in die horen Andreas Erb, Christof Hamann (Hg.): «‹Was warten ist›»: Garten der Wörter — ein Florilegium für Barbara Köhler«. die horen 286 (2022).

Barbara Köhler bei der Produktion ihres Hörstücks „Echos Quelle“ im ORF-Studio. Ursendung: 11.07.2006, „Literatur als Radiokunst“ im ORF „Kunstradio“. Foto @ Zintzen 2006, abgedruckt in Andreas Erb, Christof Hamann (Hg.): «‹Was warten ist›»: Garten der Wörter ein Florilegium für Barbara Köhler«. die horen 286 (2022).

 

Rede in Osmose

 

[...] Diese Rezension der Edition einer Anthologie von Texten einer wertgeschätzten Autorin kann nicht der Ort einer angemessenen postumen Würdigung sein. Gleichwohl sei daran erinnert, mit welcher Virtuosität Barbara Köhler die Rede in Osmose mit verschiedensten Sprachen und Idiomen versetzte. Solcherart sprengte sie unerwartete, unerhörte und flimmernde Sinnebenen frei, ohne diese freilich mit dem Zement einer vorgefassten «Botschaft» abbinden zu wollen. 

In mannigfaltigen Explorationen unterzog sie jedwedes Schreiben und Sagen einer angewandten Materialprüfung, deren prozedurale Iterationen für Lesende und Hörende überraschende und erhellende Erkenntnisse zeitigten. Was die Dichterin Anja Utler in ihrem Nachruf zutreffend als «Levitationen» bezeichnet hat, ankert wohl insbesondere in Barbara Köhlers immenser poetischer Potenz, Sprach- und Dichtkunst auf die Stufe des Reflexiven, Relationalen und Rekursiven zu heben.

 

Ich habe das Sagen nicht. Ich lasse es 

mir gesagt sein mir gefallen Wendungen

die verwandeln [...] (Entpuppung)

 

Für Lesende und Hörende öffnen Köhlers rhythmisch und melodisch akzentuierten Texte einerseits einen hinreißenden ästhetischen Genuss. Zugleich erzeugen die unmittelbar in die Sprach-, Form- und Lautgebung eingewirkten Polysemien, Umspringbilder und Kippmomente ein hoch aufgeladenes elektrisches Feld kompossibler Semantiken, deren Valenzen die — zumeist auf kürzere Textformen bedachte — Künstlerin sorgfältig in Schwebe zu halten verstand. 

Barbara Köhlers Œuvre bringt Literatur und Metaliteratur (als angewandte Reflexion der literarischen Praxis) ebenso zur Deckung wie Sprache und Metasprache im Sinne einer poetisch realisierten Sprachreflexion und -kritik.

 

Erkenntnismomente 

 

Dieses Werk beläuft sich in keinem papierenen ästhetischen Selbstzweck, sondern es äußert sich jener universale Witz, der sich — ob still schmunzelnd oder in homerischem Gelächter — von Erkenntnismoment zu Erkenntnismoment voranjubelt: Barbara Köhlers Esprit stiftet Begeisterung, und zwar genau dort, wo die Einsicht in die Mediokrität (und Korrumpierbarkeit) der Medien am größten ist. 

 

Ob Sprache oder Grammatik, Schreibmaschine oder Internet, ob die window-gleichen Darstellungsmetaphern am PC oder die Glasfronten von Galerieräumen: Das Gemacht-Sein (Heideggers entfremdeter «Gegenstand») all dieser Instrumentarien, Medien oder gar Prothesen wird aktiv und geistreich reflektiert. Es sind jene im Band Blue Box benannten «triste[n] Kiste[n]» der medialen Materialität, die Barbara Köhler geistesgegenwärtig durch die Filter von Poesie, Philosophie und Witz zu gebrauchen und gleichzeitig zu überwinden verstand. [...]

 



Triste Kiste: Ein verlegerischer Schnellschuss redet Werk und Leben der Schriftstellerin Barbara Köhler klein. Wespennest 189 (November 2025), S. 100–102. (Link zum Inhaltsverzeichnis | Link zur Zeitschrift)

 

 


 

Dienstag, 29. April 2025

Termin 06.05.2025: LinienGewächsHaus, Eröffnung

 

Ausstellung Liniengewächshaus



Renate Frerich | Sybille Hassinger

LinienGewächsHaus 

Ausstellung/Installation  


Eröffnung: Dienstag, 06.Mai 2025, 19:00 Uhr

Vorwort: Gue Schmidt (projektraumMAG3)

Zur Ausstellung: Chris Zintzen 


„Hier Zeichnung und Drahtskulptur, dort Fläche, Form und Farbraum: so distinkt Renate Frerichs und Sybille Hassingers Ansätze und Gestaltungen zunächst anmuten, so sehr eint sie aber doch eine jeweils individuelle und systematische Herangehensweise, die das Jetzige und das Spontane im Rahmen einer umrissenen Methodik praktiziert.

Kunst der Form

Viktor Sklovskij, der ebenso große wie sympathische Theoretiker des Russischen Formalismus, hat — ursprünglich auf die Literatur gemünzt — in den 1920er Jahren konstatiert: Kunst entsteht alleine in der Auseinandersetzung mit dem Material und aus der Bändigung des Materials durch die Form.

Und genau diese konsequente Arbeit am jeweiligen Material und die jeweils individuelle Herausentwicklung einer unverkennbar-signifikanten Form ist den heute vorgestellten Künstler*innen Renate Frerich und Sybille Hassinger gemeinsam.

Diese Arbeiten geben in ihren jeweiligen Dialektiken von Fläche und Tiefe, von Form und Aussparung äußerst wertvolle Anregungen vor, die sich gedanklich in mannigfaltige Richtungen weiterentwickeln lassen. Ob mathematisch oder geometrisch, ob dimensional oder prozedural: Kunst zeigt ihren Wert gerade im methodischen Surplus zu einem rein ästhetischen oder gar dekorativen Effekt.“ (czz, Auszug)

Weiteres: https://www.nammkhah.at/Mag3/LinienGewaechsHaus_D.html

Samstag, 22. Februar 2025

Termin 10.03.25 | Gert Jonkes Hörfunk/en | Alte Schmiede, Wien


Montag, 10. März 2025, 19 Uhr
Gert Jonkes Hörfunken 

 



Cornelia Hülmbauer, Martin Kubaczek, Chris Zintzen hören Gert Jonke 

Beiträge mit akustischen Zitaten, Diskussion. Moderation Annalena Stabauer im Rahmen der Reihe Hör!Spiel!

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Cornelia Hülmbauer, Martin Kubaczek, Chris Zintzen präsentierten Hörspiele nach Texten des wunderbaren Gert Jonke in der Alten Schmiede. Unter kundiger Moderation Annalena Stabauers, die in Kooperation mit mehreren ARD- und ORF-Funkhäusern einen fulminanten Schatz von Archivmaterial zusammengetragen hat, durften wir Produktionen aus den Jahren 1971 bis 2004 in signifikanten Ausschnitten präsentieren und diskutieren. – Gerade im Hörspiel tritt die Besonderheit eines „Erzählens zweiten Grades“ bei diesem Autor hervor, das Cornelia Hülmbauer sehr treffend mit dem Begriff der „Deckerzählung“ charakterisiert hat.

Vgl. Hoerspielkritik.de

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Diskurs in der Fuge höherer Ordnung – Auditive Realisationen von Texten Gert Jonkes

[Auszug czz]

Es ist, als habe Gert Jonke bereits früh einen Trick, eine Fuge oder einen Spalt des Auswegs gefunden, um einen Weg / eine BeWEGungsmöglichkeit / aus dem Labyrinth von sprachkritischen Aporien zu bahnen.

Er steigt 1. aus der Zumutung der real existierenden und als unerträglich markierten Verhältnisse aus, indem er – mit rein sprachlichen Mitteln – Sachverhalte aus dem Hut der Imagination hervorzaubert und diese sodann handkehrum wieder verschwinden lässt.

Und 2.: Indem der Autor einen grammatikalischen MODUS SURREALIS konstruiert, befreit er sich aus der Zwangsjacke des Referenziellen. Der Weg in eine distinkte eigene Sprach-Bild-Wirklichkeit ist damit frei.

Vermutlich ist die Aufmerksamkeit heuristisch ertragbringend auf einerseits die Rhythmik des Rhemas und anderseits insbesondere der textlichen Wortwörtlichkeit zu richten: Eine solche Glashausbesichtigung wird im Modus der tautologischen Absurdität einen höchst reflektiert autopoietisch agierenden Schriftsteller wahrnehmen. 

Versteck im Offensichtlichen


Das Groteske spielt dabei eine dialektische Doppelrolle: Hier die konsequente Durchdeklination eines poetischen und/oder gedanklichen Prinzips – dort eine Ablenkung/Ausleitung, die den existenziellen Ernst dieses Spiels kaschiert.

Entsprechend wäre die Prosa Gert Jonkes noch einmal neu nach dem Modell von Edgar Allan Poes The purloined Letter zu lesen: Das Offensichtliche ist deckungsgleich mit dem für versteckt gehaltenen Gesuchten. In der akustischen Realisation bzw. in der hördramatischen Aufbereitung der Prosatexte kommt dieser faszinierende Aspekt der Jonke'schen Prosa ganz besonders zum Tragen. – 

Aufschlüsse im Auditiven


Da die germanistische Forschung weiterhin weitgehend buchbasiert erfolgt, entgehen der Fachrezeption und -diskussion wertvolle Aspekte. Auch im Rückblick auf 15 Jahre Produktion und Realisation der Reihe Literatur als Radiokunst (ORF Kunstradio) mit rund 60 avancierten zeitgenössischen Autor*innen ist eine gewisse Trägheit der Literaturwissenschaft festzustellen: Es sieht so aus, als möchte diese Wissenschaft in ihrem Papierturm nicht weiter gestört werden.

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Cornelia Hülmbauer, *1982; Autorin, Sprachwissenschaftlerin. Zuletzt (u.a.): oft manchmal nie. Roman (2023).

Martin Kubaczek, *1954 in Wien, Autor, Literaturwissenschaftler, Violinist. Zuletzt: Die Süsze einer Frucht. Pflanzenikonen (2018; m. Rosemarie Hebenstreit).

Chris Zintzen, Autor, Kulturwissenschaftler in Wien. Zahlreiche Arbeiten zur Hörkunst, 2001–2015 Kurator/Producer der Reihe Literatur als Radiokunst im ORF-Kunstradio.
 

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Donnerstag, 11. Juli 2024

Theater der Objekte, Ordnung der Phänomene. Zu Christine Ulms Ausstellung „Vom Wurzeln, Grünen, Blühen, Fruchten“ im kunsthaus muerz


 

Christine Ulms Ausstellung „Vom Wurzeln, Grünen, Blühen, Fruchten“ im kunsthaus muerz. Foto © Ivan Bandic


Chris Zintzen: Theater der Objekte, Ordnung der Phänomene.

Zu Christine Ulms Ausstellung „Vom Wurzeln, Grünen, Blühen, Fruchten“ im kunsthaus muerz

 

Mit Fotografien der Ausstellung von Ivan Bandic


                                            Ausstellungstext

                                            kunsthaus muerz

                                             Archiv: C. Ulms Traumstation 2022 


Die Bildhauerin Christine Ulm hat für uns hier im kunsthaus muerz eine künstliche Welt aus natürlichen Dingen und eigenen skulpturalen Objekten zusammengetragen. Die Künstlerin geht mit dieser Inszenierung sozusagen durch die Bücher ihrer über Jahrzehnte zusammengetragenen botanischen Sammlungen. Kontrapunktisch gesetzte und eigene skulpturale Anverwandlungen runden das Bild eines ebenso stetigen wie leisen, immer aber forschenden und sorglichen Dialogs mit den Phänomenen der Welt.

Vorliegende Ausführungen mögen in der Folge etwas konturieren, das man vielleicht nicht auf den ersten Blick sieht: die Diskretion des künstlerischen Gestus. In dieser Diskretion liegt eine besondere Charakteristik von Christine Ulms künstlerischen Verfahren, die den plakativ subjektiven und expressiven Gestus sehr bewusst umgeht. 

 

Metamorphose

Es ist, als würde Christine Ulm mit dieser Schau VOM WURZELN, GRÜNEN, BLÜHEN, FRUCHTEN jener Idee einen Raum geben, die besagt: Die Welt ist vollständig, wir müssen dieser Welt nichts hinzufügen, sondern können die bestehenden Phänomene – am besten in pfleglicher Weise – als Spielmaterial für unser Wahrnehmen, Denken und Ordnen heranziehen. Die Wahrnehmung dieser Vollständigkeit der Naturdinge und das Staunen über deren Perfektion sind durchaus geeignet, die Implikationen nicht nur der eigenen künstlerischen Kreation kritisch zu prüfen: Immanent und konsequent kommunizieren Christine Ulms sorgliche Sammlungen die deutliche Infragestellung der menschlichen Schöpfungshybris vor dem Hintergrund der human verwüsteten Ökosysteme dieser Welt.

Christine Ulm kontert den egozentrisch-lärmenden prometheischen Wahn durch eine künstlerische Wahrnehmung, die allen im Titel genannten Phasen im Lebenslauf einer Pflanze Rechnung trägt, dem WURZELN, GRÜNEN, BLÜHEN und FRUCHTEN. Dies meint „Evolution“ statt „Revolution“ oder gar „Disruption“ (ein Lieblingsbegriff populistischer Polit- und technologischer „Nach-mir-die-Sintflut“-Strategen). Ein solcherart evolutionäres Perspektiv vermag das Prinzip von Veränderung bzw. Verwandlung (Metamorphose) zu integrieren, die jedem Naturding – auch uns selbst – beschieden ist.

Ein derart metamorphischer Ansatz kann auch in der Konzeption und Realisation des eigenen Werks beweglich und flexibel bleiben: Und so hat sich Christine Ulm im Laufe der jüngeren Vergangenheit auf die Inszenierung von temporären Versuchsanordnungen im Rahmen von Ausstellungen spezialisiert.

Indem sie Dinge sammelt und auswählt, präpariert und inszeniert, hat sich die Künstlerin zusehends von der engen Idee des einmaligen, konkreten physischen Werkstücks (vulgo Skulptur oder gar Kunstwerk) emanzipiert, um sich sukzessive einer Form der diskreten Inszenierung mit Aspekten der Sozialen Skulptur zuzuwenden. Solcherart wird aus dem Werk-Stück ein Werk-Raum, der – hier sei eine Begrifflichkeit vorgeschlagen – als Diskretes Theater der Objekte fungiert.

 

Ausstellung als Diskretes Theater der Objekte

Sie werden sich gewiss an die Schau Weitergeben (2021) in diesem Haus erinnern: Damals ordnete die Künstlerin Werkzeuge und andere Gegenstände aus Nachlass und Garten des Vaters in den Ausstellungsräumlichkeiten an. Die künstlerische Geste bestand damals nicht nur in der Auswahl und Anordnung der Objekte, sondern in der Ermunterung an die Ausstellungsbesucher*innen, aus dieser Sammlung nun ihrerseits Objekte auszuwählen – und mit nach Hause zu nehmen. Die Modalität von „Kunst“ besteht in dieser Situation im Gestus und im Vollzug von „Gabe“, „Weitergabe“ und „Geschenk“.

Ähnlich direkt nahm die Künstlerin auf die Ausstellungsbesucher*innen Bezug, als sie 2022 im Wiener Projektraum Mag3 das Environment einer Traumstation arrangierte: Auch in diesem Zusammenhang inszenierte die Künstlerin mit sparsamsten Mitteln – der Positionierung alltäglicher, allerdings künstlerisch diskret präparierter Gebrauchsgegenstände  – einen Traumraum,  welcher die Betrachtenden in deren eigene Fantasiewelt entführte.[1]

Das angesprochene „Leise“ oder „Taktvolle“ dieser Inszenierungen meint einerseits den nachdenklich-kontemplativen oder gar forschend-untersuchenden Zug, der diesen Arrangements innewohnt. Als Auf- und Ausstellung von Gegenständen unter Verzicht auf starke Effekte bleibt dieses „Theater“ ein wohltuend ruhiges: Solcherart mag der von der Künstlerin subtil gestaltete Raum dazu beitragen, neue Räume in der Wahrnehmung der Betrachtenden emergieren zu lassen.

 

Erschließende Subjektivität

Hervorzuheben ist das Bekenntnis der Künstlerin zur Subjektivität – zu einer Subjektivität freilich, die das Wort „ich“ nicht als Besonderheit vermarktet. Christine Ulm bringt die eigene Subjektivität, ihr Erleben und Erinnerung auf einen Punkt, den sie mit uns allen teilt: Berührbarkeit, Belangbarkeit und Sorglichkeit. Auf diese Weise kann Christine Ulm „ich“ sagen und Persönliches zeigen, ohne uns Betrachtende durch Bekenntnishaftigkeit oder Indiskretion zu belasten.

Wenn die Künstlerin in dieser Ausstellung etwa eine von deren Vater im Zuge von Wanderungen aufgenommen Alpen-Blumen als Dia-Serie zeigt, können wir diese „Found Footage“ aus Privatbestand im Sinne eines in seiner Aussagekraft über das nur Private hinausreichenden Dokuments beachten: Das mediale Dokument trägt – darin übrigens den historischen Pflanzenpräparaten verwandt – einen historischen Index, vermag also auch mit seinen motivischen, ästhetischen und medienspezifischen Eigenschaften aussagekräftig zu sein. 

Die Fotografien und Schriften, Aufzeichnungen und Artefakte mögen – als etwas menschlich Gemachtes, Hergestelltes und Fabriziertes – prima Vista eine Differenz zum pflanzlich Gewachsenen, Erblühten oder Gefruchteten aufweisen. Vielleicht aber wäre es allerdings an der Zeit, die überlieferte Opposition von „Natur“ und „Kultur“ zugunsten einer realistischeren und produktiveren Perspektive zu revidieren.

Denn wenn wir beginnen, den Naturcharakter des von uns Hergestellten – nämlich, Objekt von Veränderungsprozessen (Alterung, Korrosion, Zersetzung) zu sein –, ebenso in unser Denken miteinzubeziehen wie die Anerkennung jener „Leistung“, die eine Pflanze im Laufe eines Lebenszyklus‘ vollbringt, würden wir vielleicht nicht so achtlos und ausbeuterisch mit den Naturdingen umgehen und nicht derart fragwürdige und schädliche Dinge produzieren.

 

Christine Ulms Ausstellung „Vom Wurzeln, Grünen, Blühen, Fruchten“ im kunsthaus muerz. Foto © Ivan Bandic

 

Sammlung: Serielle Muster und immanente Kritik

Die über vier Jahrzehnte und drei Klimazonen hinweg aufgelesenen Kollektaneen der Bildhauerin machen den gesellschaftlichen Wert von Kunst als Medium der Welterschließung und -ordnung sinnfällig. Kompetenz entsteht auf dem Wege des systematischen In-den-Blick-Nehmens und des Wahr-Nehmens: Partikel und Phänomene ordnen sich zu Mustern. Ein solches Muster-Bilden und die daraus resultierende Serialität sind von hohem ästhetischem Reiz, erzählen aber auch Geschichten und vermitteln Erkenntnisse. Dies geschieht, wohlgemerkt, nicht laut und spektakulär, sondern diskret, vielstimmig und: in der Wahrnehmung der Betrachtenden.  

Wir kennen Walter Benjamins melancholisches Argument, dass weder Leben, Wissen, Werk noch Sammlung jemals zu einem Ende oder zu einer vollständigen Erfüllung kommen können. Wir wissen aus den Schriften dieses Autors und Kulturphilosophen aber auch, dass Benjamin – selbst leidenschaftlicher Sammler – die Marx’sche Analyse der kapitalistischen Akkumulation wiederholt im Zusammenhang mit dem Thema des Sammelns in seinem Passagen-Werk notierte. Gerade dieses im französischen Exil und in oft verzweifelter Lage entstandene Werk belegt, wie Benjamin den weltwachen und differenzierungsfreudigen Sammlerblick in eine stupende Fähigkeit der Wahrnehmung und Formulierung von Phänomenen transformierte. Die Attitüde des Sammelns gelangte solcherart zu einer besonders geschulten, schöpferischen und philosophischen Fruchtbarkeit. 

Übrigens teilt auch die Künstlerin Christine Ulm die oben angesprochene kritische Wahrnehmung und Reflexion einer in der westlichen Welt längst zerstörerisch gewordenen Überkonsumption an Waren, Ressourcen und „Natur“. Ulms Gegenentwurf liegt hier vor ihnen in den Vitrinen und auf der Hand: Es ist das Sammeln, das Verarbeiten, das Genieß- und Haltbarmachen von allem, was da sprießt und wächst.

 

Kunst und Kochen als Gabe

Denn das Kochen funktioniert ja ein Stück weit wie die Kunst: Wir sammeln und bearbeiten Objekte der äußeren Welt und initiieren eine Verwandlung. So, wie die Kunst Anschaulichkeit produziert und uns zu Erkenntnissen leitet, so geschieht beim Einkochen eine Metamorphose von Fallobst, Wildbeeren, Samen und Stängeln in etwas kulinarisch Schmackhaftes und physiologisch Nahrhaftes. Die Künstlerin als derart kulinarische Zaubernde ist in dieser Schau mittels eines kleinen Kochbuchs sowie in einem Video präsent, das sie bei der Zubereitung von Bitterorangen zeigt. 

 

Aber da ist noch etwas anderes, was Kunstproduktion und Kochen verbindet: So, wie Gekochtes, Verarbeitetes oder haltbar Gemachtes erst durch das Essen und Teilen und Weitergeben Sinn stiftet, genauso vollendet sich eine künstlerische Versuchsanordnung erst durch dessen Betrachterinnen und Betrachter. 

 

In diesem Sinne sei die Ausstellung nun für Sie, werte Anwesende, eröffnet.



[1] Vgl. C. Zintzen: Christine Ulms ‚Traumstation‘ oder: Nachrichten von der Rückseite des Mondes, 22.10.2022, DOI: 10.13140/RG.2.2.33490.43208, https://www.researchgate.net/publication/368477440_Christine_Ulms_Rauminstallation_Traumstation_oder_Nachrichten_von_der_Ruckseite_des_Mondes










Donnerstag, 27. Juni 2024

Termin: C. Ulm – Vom Wurzeln, Grünen, Blühen, Fruchten – kunsthaus muerz, 29.06.2024

 



 

 ➾ Druckfassung des Einleitungstextes: Theater der Objekte, Ordnung der Phänomene. Zu Christine Ulms Ausstellung „Vom Wurzeln, Grünen, Blühen, Fruchten“ im kunsthaus muerz

➾ Archiv: Traumstation oder: Nachrichten von der Rückseite des Mondes. Zu Christine Ulms Environment im Projektraum Mag3 (Oktober 2022). 


Ausstellung: Christine Johanna Ulm

VOM WURZELN, GRÜNEN, BLÜHEN, FRUCHTEN

kunsthaus muerz. Eröffnung: 29.06.2024, 16 Uhr

Zur Ausstellung: Chris Zintzen, Kulturwissenschafter und Autor

„Natur“ in einer persönlichen und autobiografisch codierten Sammlung: Die über vier Jahrzehnte und drei Klimazonen hinweg aufgelesenen Kollektaneen der Bildhauerin Christine Johanna Ulm machen den gesellschaftlichen Wert von Kunst als Medium der Welterschließung und -ordnung sinnfällig. Kompetenz entsteht auf dem Wege des systematischen In-den-Blick-Nehmens: Phänomene ordnen sich zu Mustern. –

Der Rekurs auf autobiografisches Wahrnehmen ist dabei nur eine Geschichte: Eine andere Erzählung betrifft das leidenschaftliche Sammeln, Präparieren, Verarbeiten und Haltbarmachen von genießbaren Wildkräutern und -früchten, welches die Künstlerin und den Einleitungsredner verbindet.








 

 




 

Dienstag, 21. Mai 2024

Termin: „neue texte“-Essaypreis, 13. Juni 2024

 

Heimrad Bäcker: neue texte*. Titelblatt des ersten Hefts, November 1968. © Literaturarchiv der ÖNB, Wien. Quelle: Stifterhau/Eder

 

Verleihung der Heimrad-Bäcker-Preise 2024

 

Laudatio: Ferdinand Schmatz

Lesung Sandro Huber (Förderpreis zum Heimrad-Bäcker-Preis)

Laudatio: Erwin Uhrmann

Lesung Ilse Kilic (Heimrad-Bäcker-Preis)

Chris Zintzen („neue texte“-Essaypreis 2024), Gespräch mit Thomas Eder

 

 

„Die Heimrad-Bäcker-Preise sind somit die einzigen österreichischen Preise, die ... entschieden zur Förderung von Literatur aus dem Umfeld dessen verliehen werden, was als experimentelle Dichtung zu betrachten ist.Der neue texte–Essaypreis zeichnet herausragende Stimmen auf dem Feld der literarischen Essayistik aus.“ 

.....

*Heimrad Bäcker gehört als Verleger und Autor zu den herausragenden Erscheinungen der österreichischen Literatur nach 1945. In einer Zeit, da sich konkrete Poesie durch Anthologien (z. B. Williams 1967; Solt 1970; Gomringer 1972) und retrospektive Selbstbestimmungen zu historisieren beginnt, entsteht seine Zeitschrift neue texte und bleibt bis zum Ende ihres Bestehens (1992) eines der bedeutendsten Foren der sogenannten konkreten Poesie, die sich selbst neu zu definieren versucht. Der Kritik von außen, etwa dem Vorwurf ihrer „Sterilität“ (Friedrich 1966, Vorwort), korrespondiert zu Beginn der 1970er Jahre eine zunehmende Unbestimmtheit des Begriffs „konkret“ bei ihren eigenen Vertretern. Dem darauf folgenden Umbruch von konkreter zu visueller und konzeptioneller Poesie bieten die neuen texte ein Publikationsorgan, das neben international arrivierten auch jüngere und (damals) noch unbekannte Autoren und Autorinnen präsentiert und so die lebendige Auseinandersetzung zwischen dogmatischen, am Begriff des konkreten Texts orientierten Arbeiten und neuen, experimentellen Formen auch in der medial-formalen Darstellungsweise (Kombination von Bild-, Foto-, Textarbeiten, experimentelles Hörspiel, Dokumentation von Performances und Aktionen etc.) zeigt. – Thomas Eder: neue texte; edition neue texte. https://www.stifterhaus.at/stichwoerter/neue-texte-edition-neue-texte. 

 

 

Dienstag, 14. Mai 2024

Erschienen: "Nieder mit den Schloten und Elfenbeintürmen!"




"Wo die Elfenbeintürme dieser Welt nicht denkbar sind ohne die ihnen ursächlich vorausgehenden Fabrikschlote, wäre – wie wir heute erkennen – nur in der Schleifung beider ein Schritt in Richtung einer Rückbesinnung des Homo Sapiens auf eine weniger vernichtende Auswirkung seiner Spezies auf diesen Planeten zu erlangen."


Nieder mit den Schloten und Elfenbeintürmen! Über Literatur und Narrentum, Kitsch und Subjekt.

In: kolik. Zeitschrift für Literatur 96/2024, 103–106. 

 


Dieser Text entstand im Nachgang zu der von Ulrike Tauss und Thomas Antonic veranstalteten Lesung/Performance im Wiener Narrenturm (September 2023). 

Der Essay wird demnächst im Rahmen einer Anthologie bei Moloko Print (Berlin) erscheinen. 

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Freitag, 3. Mai 2024

Erschienen: Die Opfer von Donaublau. Zu Marianne Fritz' "Schwerkraft der Verhältnisse"

 

Werk und Schreibhaltung der Autorin Marianne Fritz geben mir seit dreißig Jahren zu denken. Die Beobachtung des Neuen Wiener Symposiums zu Marianne Fritz im Jahr 1994, sodann die Kooperation mit der Gruppe Fritzpunkt für Literatur als Radiokunst zehn Jahre später, nicht zuletzt einige schweifende Lektüren innerhalb der Textgelände der Autorin trugen nicht eben zur Beruhigung bei. 

Die Neu-Edition des Bandes Die Schwerkraft der Verhältnisse gibt Gelegenheit zur neuerlichen Beschau eines Textbegehrens, dessen Analyse mit Friedrich Heers 1981 formuliertem Ruf nach der Notwendigkeit einer österreichischen „Psychohistorie“ in Zusammenhang gebracht wird. Die Schwerkraft der Verhältnisse war 1976 erschienen, ich halte diesen historischen Index der Publikation für relevant. 

 

[...] Denn das knapp 135-seitige Büchlein ist mitnichten ein Leichtgewicht, sondern könnte – so viel vorweg – zu einer Kompilation jener fehlenden österreichischen «Psychohistorie» beitragen, die Friedrich Heer in Der Kampf um die österreichische Identität 1981 als «dringend[es]» Desiderat eingemahnt hat. 

Eine zentrale Rolle in einer solchen Psychohistorie käme den Kriegen des 20. Jahrhunderts zu, insbesondere den Frontlinien in den Hinterlanden des (einstigen) Habsburgerreiches: Mit den – auch seelischen – Hinterlanden beziehungsweise Hinterlassenschaften beider Weltkriege hat sich Fritz zeitlebens literarisch beschäftigt. Es scheint, als habe sie sich im Fortschritt ihrer immensen Schreibarbeit immer weiter nach Osten bewegt. Das Buch Die Schwerkraft der Verhältnisse, ihr akklamierter Erstling in der literarischen Welt, könnte – so die Vermutung – vielleicht das westlichste Werk der Autorin sein: Dies betrifft einerseits die Situierung des Geschehens in dem fiktiven Ort Donaublau im Österreich der Zweiten Republik. Dies umfasst aber möglicherweise auch dramaturgische und motivische Bezüge auf westeuropäische Literaturen sowie philosophische oder gesellschaftspolitische Konzepte, wie sie etwa in Brechts epischem Theater verhandelt werden.

Denn Marianne Fritz «erzählt» nicht in einem traditionellen, konsekutiven, zwischen Faktum und Gefühl, Innen- und Außenperspektive, Faktizität und Ambiance, Handeln und Werden, Aktiv und Passiv unterscheidenden Sinn. Geradezu im Gegenteil inszeniert die Autorin eine zwingend erscheinende Drift jener titelgebenden Verhältnisse, welche die Zentralfigur in ein Verhängnis treiben werden. Anders als es der wald- und wiesen-psychologische Roman oder Film gemeinhin exekutieren, um die Zuspitzung der mentalen Zustände einer Figur bis hin zu einer Extrem- oder Gewalttat zu illustrieren, verzichtet Fritz auf die konventionellen literarischen Mittel der psychologischen Figuren-Modellierung.  

Die Personagen werden in ihrem (Sprach-)Verhalten und in ihren Verhältnissen vorgeführt, wobei die Verhältnisse in doppeltem Sinne einerseits als sozioökonomische (Angestelltenverhältnisse, Dienstpflichten, Wohlstand als Erwerb eines PKW) figurieren, andererseits als Beziehungskonstellationen eine determinierende Rolle spielen. 

Anders gesagt: Die solcherart polyvalenten und überdeterminierten Verhältnisse konstituieren als erzählte Wirklichkeit (recte: als Planspiel) ein alles andere ausschließendes, ausschließliches und geschlossenes System. Auch hier gilt die Regel, dass die reziproke Bezogenheit der Elemente eines Systems aufeinander sich umgekehrt proportional zur Größe des Systems verhält. Wir ahnen es bereits: Hier droht Entropie. [...]


Pathos/Sprachlosigkeit/Verweigerung

 

Marianne Fritz’ zwischen Krieg und Kindermord, Schlachtfeld und Psychiatrie aufgespanntes Szenario geizt nicht mit topischem und symbolischem Pathos. Das Unvermögen der Figuren, sich im Hinblick auf eine mögliche autonome (oder gemeinsam) gestaltbare Realität wirksam mitzuteilen, entspricht dem von der österreichischen Literatur des dritten Drittels des 20. Jahrhunderts (Jandl, Mitterer, Turrini) in mannigfaltigen Varianten realisierten Topos der Sprachlosigkeit beziehungsweise der von dem Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler wiederholt diagnostizierten «Verweigerung». 

Sprechende Namen wie Faust oder Schrei akzentuieren expressionistisch eher einen transpersonalen oder überindividuellen Typus denn eine individuelle Persönlichkeit, könnten aber auch in Anlehnung an die «sprechend» benannten Figuren (Kien, Pfaff) aus Canettis Blendung und damit – freilich vermittelt – in einer Tradition der Groteske, der Moritat und des Wiener Volkstheaters verstanden werden. Die als in Österreich befindlich markierten fiktiven Örtlichkeiten Donaublau oder Felsenstein lassen an Hans Leberts fiktiven Ort Schweigen ebenso denken wie an Thomas Bernhards oder Elfriede Jelineks unheilvolle Topografien.

 

Subjekt oder Objekt der Geschichte

 

In diesem Zusammenhang kommt der Autor dieser Zeilen noch einmal auf Friedrich Heers Ruf nach einer österreichischen Psychohistorie zurück. Indem wir mit Marianne Fritz’ Erstling in die Nachkriegszeit des österreichischen 20. Jahrhunderts zurücktauchen und damit auch die Entstehungszeit des Textes in den 1970er-Jahren reflektieren, fällt etwas auf: Das eigentliche «Subjekt» dieses Buches sind die Verhältnisse. Die Protagonist*innen des Textes erhalten keine Chance auf etwelche Handlungsfähigkeit, weder in der Story noch in dem, was hier jetzt einmal kurzum als History bezeichnet werden soll: Auf engstem Raum arbeiten sich die Figuren aneinander ab, ohne dabei je von der Stelle zu kommen. 

Die von Fritz plural orchestrierte kalte Hölle einer ausweglosen Kleinräumigkeit erinnert wohl nicht zufällig an Sartres «l’enfer, c’est les autres», denn in einer Geschlossenen Gesellschaft handelt ja auch das Buch von Marianne Fritz. Hier «handelt» indes niemand im Sinne von Bewusstheit, Erkenntnis, Einsicht, Autonomie oder Selbstermächtigung; das Personal des Textes agiert nicht, sondern re-agiert. Sämtlich werden diese Figuren als Objekte von – übrigens nur diffus suggerierten – Verhältnissen dargestellt, denen sie angeblich alternativlos ausgeliefert seien. Die Getriebenheit der Figuren scheint zu legitimieren, dass sie ihrerseits Gewalt ausüben und weitergeben. Ich halte dies für ein wichtiges Indiz. 

Indem die nicht nur auktoriale, sondern geradezu autoritäre Regie des Textes die Tunnel-Logik einer derartigen – angeblichen oder angenommenen – Getriebenheit ästhetisch als historische Notwendigkeit präsentiert, prolongiert sie das Lied vom «Opfer Österreich» als Gründungsmythos der Zweiten Republik. Acht Jahre nach Erscheinen der Schwerkraft der Verhältnisse trug die Waldheim-Affäre 1986 erheblich dazu bei, dass die aktive und oft bewusst-absichtsvolle österreichische Mittäterschaft am verbrecherischen Regime und bei den Gräueln des Nationalsozialismus allmählich dem bislang beredten Verschweigen entrissen worden ist.


Der Essay ist im Themenheft No Future der Zeitschrift Wespennest erschienen.

⇒ Text (als pdf):  Die Opfer von Donaublau. Marianne Fritz’ Die Schwerkraft der Verhältnisse in neuer Ausgabe. In: Wespennest 186/2024 (Mai 2024), 88–91.

 

Chris Zintzen: Die Opfer von Donaublau. Marianne Fritz’ Die Schwerkraft der Verhältnisse in neuer Ausgabe. In: Wespennest 186/2024 (Mai 2024), 88–91.