Sonntag, 23. Februar 2020

Notizen zum Utopischen 4 | Gegenlektüren







Das gebaute Jetzt realisiert eine in der Vergangenheit entworfene Projektion. Auf paradoxe Weise begräbt die Gegenwart die Projektion, denn in der Realisierung wird naturgemäß der utopische Kern des Entwurfs stillgestellt. Projekte und Utopien haben die Charakteristik, dass sie mit dem Augenblick ihrer Realisierung dem Prozess des Alterns und des Veraltens ausgesetzt sind. Oder, wie Freud ein klassisches Dilemma der Archäologie charakterisierte: Pompeji verfällt erst, seit es ausgegraben worden ist. Was im Schutz der Erde jahrhundertelang erhalten blieb, ist seit seiner Freilegung der Witterung, der mechnischen Korrosion (und dem Diebstahl) ausgesetzt. 


Ein Ähnliches gilt für kühne Stadtentwürfe und urbane Projekte: Wasser, Wind, Wetter, Vögel, Feinstaub, Pflanzen, Flechten setzen dem neuen Artefakt bereits mit Baubeginn zu und wohl dem Bauherrn, der Solches in seine Planungen mit einbezieht!

Zu rechnen ist allerdings am deutlichsten mit dem Faktor Mensch und dessen Gabe, sich jeder gegebenen Struktur für eigene Zwecke und nach eigenen Regeln zu bemächtigen. Es handelt sich dabei um jenes anarchische Potential, mit welchem sich alle möglichen Benutzergruppen alle möglichen Räume gegen den Willen von Planern, Architekten und Magistraten aneignen, indem sie sich die gebaute Welt unter Zuhilfenahme von Skateboards, Hunden, Graffiti, Einkaufswagen, Street-Workouts, Müll mit ihrer mit ihrer Condition Humana imprägnieren. 

Mir gefällt diese Ordnungswidrigkeit als Form der Gegenlektüre (John Fiske) und als temporäre Appropriation: Sie erweist offensichtlich den ständigen Kampf um Deutungen und Territorien im urbanen Raum und: Die Vielfalt der in diesem Territorialkampf involvierten Interessen und Gruppen, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, nicht als Eigentümer über das Gelände verfügen zu können. (Sennett: Die offene Stadt).

Aber mir gefällt auch die Anarchie des Heimeligen und des Geschmacklosen, welche noch den grandiosesten Architektenentwurf nach Einzug der ersten Bewohner zu überwuchern beginnt. Saubere Architekturfotos, propere und durch ideale Menschenfiguren möblierte Renderings lassen mich an die Dystopie der Cabrini Greens-Sozialbauten in Chicago denken. Der dortige hohe Gewaltquotient gab zu Studien Anlass, die erweisen, dass mit jedem zusätzlichen Baum und mit jeder neuen Grünfläche die Anzahl der Gewaltverbrechen sinkt. 

Zaha Hadids ikonische Wohnbauten am Donaukanal bleiben leer, da von dort aus Supermärkte fussläufig nicht zu erreichen sind. Dahingegen haben die charakteristisch schrägen Pylone sich als architektonisch kontagiös erwiesen: Sie wurden von der Schiffsstation am Schwedenplatz zitiert und von einem Wohnhaus an der Oberen Donaustraße. 














23.02.2020